Automobilzulieferer Ein Innenraum, viele Welten

Autor Hartmut Hammer

Faurecia will zusammen mit festen Partnern Interieur-Ideen rasch in marktfähige Produkte überführen. Künftig sollen die Passagiere bei Haptik, Akustik, Optik und Funktionalität höchst individuell umsorgt werden.

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Musik nur im Kopfbereich: Ein ausgeklügeltes Audioengineering schafft individuelle Klangblasen.
Musik nur im Kopfbereich: Ein ausgeklügeltes Audioengineering schafft individuelle Klangblasen.
(Bild: Faurecia)

Der Anfang 2019 gekaufte japanische Elektronikspezialist Clarion ist der Königstransfer für den französischen Systemlieferanten und dessen künftige Ausrichtung. Seitdem ist Clarion zusammen mit anderen Akquisitionen und Faurecia-Abteilungen unter dem Namen Faurecia Clarion Electronics (FCE) als vierter Geschäftsbereich im Unternehmen integriert und beackert Themen rund um HMI, Audio, Konnektivität und Fahrerassistenz.

Individuelle Innenraumwelten

„Wir verstehen uns als Systemlieferant“, so Ralf Drauz, Global Account Director für deutsche OEMs bei Faurecia Clarion Electronics und Geschäftsführer der Clarion Europa GmbH. „Dabei hilft uns das Know-how anderer Faurecia-Geschäftsbereiche in Sachen Sitze, Klimatisierung, Oberflächen- oder Lichttechnik.“ Zudem hat das Unternehmen ein Innovations-Ökosystem aufgebaut, das weiteres Know-how generiert.

Faurecia will komplette Innenraumwelten schaffen, die sich intuitiv an die Fahrerbedürfnisse anpassen. Beim Einstieg könnten Sensoren den Fitnesszustand der Passagiere abchecken und die Klimatisierung entsprechend anpassen. Zusätzlich sollen Beleuchtungseffekte in den Oberflächen sowie Audiosysteme ein Wohlfühlambiente schaffen. Sobald (teil-)autonome Fahrfunktionen die Fahrzeugführung übernehmen, fahren die Vordersitze in eine Relaxposition, und die Passagiere können entspannen.

Schlanke Klangkörper

Faurecia sieht schon lange vor vollautonomen Fahrzeugen einen Bedarf an solchen individualisierten Innenraumszenarien und Komfortsystemen. So hat das Unternehmen mit seinen Partnern ein neuartiges Audiokonzept entwickelt, bei dem Exciter bestimmte Innenraum-Oberflächen – etwa die Türverkleidungen – anregen, die dann als Schallquelle dienen. „Durch den Entfall von Lautsprechern lassen sich mehrere Kilogramm Masse und Bauraum einsparen. Außerdem sind die optische Qualität und Robustheit der Akustik-Oberflächen höher“, bestätigt Ralf Drauz. „Allein der Entfall eines Subwoofers kann mehr als 100 Euro Kosten, Bauraum und Gewicht sparen.“ Genauere Zahlen seien immer vom Einzelfall abhängig. Aber die von Continental und Sennheiser mit einem ähnlichen System prognostizierten Gewichts- und Bauraumreduktionen von 75 bis 90 Prozent hält Ralf Drauz prinzipiell für realisierbar.

„Mit diesem neuartigen Audiotuning sind auch verschiedene Soundkonfigurationen darstellbar, etwa ein Opernklang. Im Gegenzug kann eine aktive Geräuschreduzierung eine Schalldämmung von bis zu 18 dB erzielen“, so Drauz. Und durch Lautsprecher und Ohr-Tracking-Sensorik in den Kopfstützen lassen sich lokale Klangblasen schaffen, die jedem Passagier sein eigenes Hörerlebnis bieten, ohne dass die Mitfahrer gestört werden. In den Sitz eingebundene Basselemente können zusätzlich für die haptische Wahrnehmung der Musik sorgen. Zur Steuerung der zahlreichen Klima-, Audio- und Elektronikfunktionen favorisiert Faurecia ein Domänenkonzept mit einem leistungsstarken Cockpit-Zentralrechner. Faurecia realisiert derzeit die ersten beiden Serienanläufe einer solchen zentralen Recheneinheit für einen chinesischen und einen europäischen OEM.

Die Plattform soll es richten

Auf Softwareseite arbeitet man gemeinsam mit dem Partner Accenture an einer umfassenden Bedienplattform. Sie zeichnet sich laut Ralf Drauz durch ihre Vielseitigkeit und Skalierbarkeit aus. Beispielsweise ist darin auch der Zugang zu Aptoide integriert, mit etwa 800.000 Apps drittgrößter App-Store. Er bietet als White Label Store den Vorteil, dass er OEM-übergreifend angeboten werden kann und die OEMs die Hoheit über die Daten behalten. Als weitere Kooperation nutzt FCE die „Microsoft Connected Vehicle Platform“ (MCVP), die den Zugang zu cloudbasierten Funktionen für Arbeit, Gaming und Entertainment samt digitaler Kontinuität von daheim bis ins Auto bietet. Sprich, im Haus begonnene Spiele oder Arbeitsinhalte können im Fahrzeug nahtlos fortgesetzt werden.

Außerdem soll die MCVP den Zugang zu On-Demand-Inhalten, zu Mobilitätsdiensten, zu Spielen und anderen In-Car-Services ermöglichen und deren Abrechnung vereinfachen. „Für sicherheitskritische Funktionen, etwa cloudgestützte Operationen bei Fahrerassistenz und automatisiertem Fahren, muss als Voraussetzung aber erst einmal eine flächendeckende und sehr stabile 5G-Mobilfunkverbindung garantiert sein“, dämpft Ralf Drauz etwaige hohe Erwartungen.

Sitzintegrierte Funktionen

In die Kategorie On-Demand-Dienste könnten auch sitzintegrierte Funktionen wie eine Sitzentlüftung, die oben angesprochenen Klangblasen in Kopfnähe, aber auch Massage- und Fitnessfunktionen fallen. Bei letzteren kooperiert FCE mit Human Lab, die deren Entwicklung wissenschaftlich begleitet und evaluiert. „Künftig könnten Sitze bereits serienmäßig mit einfach zu realisierenden Zusatzfunktionen ausgerüstet sein, die bei Bedarf über die Cloud freigeschaltet werden“, deutet Ralf Drauz neue Geschäftsmodelle an. Dies wäre insbesondere für Ridesharing-Fahrzeuge interessant. Aber auch die Sitzkonfiguration ließe sich noch verbessern. Etwa wenn eine Kamera die Sitzbelegung überprüft, und anschließend Kopfstützen, Sitzelemente oder Display-Inhalte individuell konfiguriert werden. Beispielsweise könnte eine Dreier-Rückbank in zwei komfortable Einzelsitze verwandelt werden.

Für die Zukunft nach 2030 könnte sich Faurecia auch eine Trendwende zu weniger Displays vorstellen, da eine ruhigere und hochwertigere Interieurgestaltung prognostiziert wird. Schon heute arbeitet Faurecia mit Bedienoberflächen, die in die Innenraumoberflächen integriert sind. Sie werden nur sichtbar, wenn sich eine Hand zur Bedienung annähert. Künftig ist vorstellbar, dass Projektionssysteme die Bedienelemente nicht nur auf Oberflächen projizieren, sondern auch auf Körperteile wie die ausgestreckte Hand oder in die Luft.

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