Wolfsburg 42 „Es geht nicht darum, das nächste Google oder Facebook für den Verkehr zu schaffen“

Von Christoph Seyerlein

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Max Senges leitet die Coding-Schule 42 Wolfsburg. Dort sollen ohne feste Lehrpläne IT-Fachkräfte ausgebildet werden. Im Interview erklärt der Schulleiter, wie es bislang läuft, wie es weitergeht und warum er die Software-Strategien in der Autoindustrie mit Skepsis beobachtet.

Max Senges leitet die 42 Wolfsburg.
Max Senges leitet die 42 Wolfsburg.
(Bild: Volkswagen)

Seit Anfang des Jahres können sich Studierende an der „42 Wolfsburg“ Coding-Fähigkeiten aneignen. Die Schule setzt weder auf Professoren, noch auf Lehrpläne. Stattdessen sollen die Studierenden per Peer-Learning vorankommen. Im Interview erklärt Schulleiter Max Senges, wie die Erfahrungen mit dem ersten Jahrgang ausfallen, welche Pläne und Ziele er mit der 42 Wolfsburg verfolgt – und was er von den Software-Strategien der Autobranche hält.

Herr Senges, was bewegt einen dazu, einen Entwickler-Job bei Google aufzugeben, um Schulleiter zu werden?

Max Senges: Die Perspektive, die nächste Generation zu unterstützen, aufgeklärte, nachhaltige Lebenswege zu planen. Das ist sehr reichhaltig und reizvoll. Wir schaffen großartige Möglichkeiten für unsere Studenten. Einerseits vermitteln wir sehr gefragte Fähigkeiten, aber auch ein Mindset, eine „Du kannst es schaffen“-Mentalität. Für mich fühlt es sich wie eine Rückkehr zu meinen Wurzeln an. Ich hatte zu Wissens-Entrepreneurship promoviert und danach zwei Startups im Technik & Bildungsbereich aufgegleist.

Warum haben Sie sich für das „42er-Konzept“ entschieden und nicht etwa für einen Dozenten oder Professoren-Job an einer „normalen“ Uni?

Beide Sachen schließen sich gegenseitig nicht aus. Ich habe auch schon an normalen Unis unterrichtet und publiziere auch gerne. Peer-Learning, also in Lerngruppen voranzukommen, ist in der Software-Entwicklung schon lange etabliert. Sehr angesprochen hat mich an der 42 die Verbindung aus Freiheit und Verantwortung. Das kommt als Paket zusammen. Ganz wichtig ist es aus meiner Sicht, die nächsten Generationen so auszubilden, dass sie ihr eigenes Leben in die Hand nehmen. Sie müssen raus aus dem gefühlten Kontrollverlust. Globalisierung, Digitalisierung, Pandemie – das sind alles Dinge, die auf uns einprasseln und vielen von uns das Gefühl nehmen, unseres eigenes Glückes Schmied zu sein. Zu Unrecht, finde ich. Und das wollen wir bei der 42 vermitteln.

Was macht Sie so sicher, dass Ihre Schüler auf dem Markt ähnliche oder sogar bessere Chancen als Studierende haben, obwohl letztere einen anerkannten Abschluss erwerben und erstere „nur“ eine Urkunde?

Unsere Absolventen sind kompetent. Sie sind wirklich gute Programmierer. Und das nicht in einem Kontext, der ihnen vorgeschrieben wurde. Sie haben ihre Projekte selbst erfasst und eigenverantwortlich umgesetzt. Das will jeder Chef da draußen. Deshalb kommen unsere Coder in der Wirtschaft sehr gut an. „Klassische“ Studenten brauchen wegen ihrer oft sehr akademischen Ausbildung nach dem Abschluss häufig noch viele Monate, bevor sie selbst loslaufen können. Das gibt es bei uns durch den Peer-Ansatz nicht. In der Software-Entwicklung ist das der native Modus Operandi, unsere Praktiken sind unter IT-Forschern und Hackern lange etabliert. Wenn man an der Grenze des technologisch Möglichen arbeitet, gibt es keine Lehrbücher. Es gibt übrigens auch schon viele tausende Absolventen von anderen 42-Schulen, die in der Wirtschaft sehr erfolgreich sind. Über 90 Prozent finden einen attraktiven Job, machen sich selbstständig oder gründen ein Start-up. 42 ist eine europäische Erfolgsgeschichte.

Anfang des Jahres sind Sie in Wolfsburg gestartet. Wie viele Studierende zählt die 42 Wolfsburg aktuell?

Im Moment 150. Unsere Kapazität liegt bei 600. Im November kommen die nächsten 150.

Wie viele Bewerbungen auf die Plätze gehen bei Ihnen ein?

In der ersten Runde hatten wir rund 6.000 Registrierungen von Interessenten. Dann folgt ein zweistündiger Online-Test. Dafür braucht es keine Vorkenntnisse. Aber man muss die eigene Motivation unter Beweis stellen und sollte algorithmisch denken können. Die erfolgreichsten 450 Kandidaten laden wir dann zum vierwöchigen Bootcamp ein, das wir „Piscine“ nennen. Ein Drittel sagt dann dabei, Coding oder Peer-Learning ist nichts für mich. Und vom Rest erhält dann etwa die Hälfte einen Platz bei uns.

Sie betonen, beim Auswahlprozess auf eine hohe Diversität unter den Studierenden achten zu wollen. Wie gut ist Ihnen das bisher gelungen?

Radikale Inklusion ist einer unserer Grundwerte. Ich glaube, dass Teamfähigkeit in diverser Zusammensetzung ein essenzieller Soft Skill ist, der in der Wirtschaft gut ankommt. Wir haben 30 Nationen unter unseren Studierenden, etwa die Hälfte ist aus Deutschland. Im Moment haben wir immerhin 25 Prozent Frauen. Für die Informatik ist das zwar schon eine gute Zahl, aber wir wollen schnell auf 35 Prozent kommen. Übrigens studieren bei uns auch verhältnismäßig viele Menschen aus der LGBTQ-Community. Das finde ich sehr schön.

Wie alt sind Ihre Studenten im Schnitt?

Die 42 ist für viele die zweite Chance. Das Durchschnittsalter liegt bei 28 Jahren, ist also verhältnismäßig hoch. Aber die Spannweite ist sehr groß. Wir bewegen uns da zwischen 18 und 58 Jahren. Das finden wir auch sehr cool. Denn das gehört ja auch zur Diversität. Da wird auch mal der 58-Jährige von der 18-Jährigen evaluiert. Das sind spannende Erfahrungen. Ebenfalls interessant: Jeder Vierte kommt aus der Arbeitslosigkeit. Bei uns hat jeder eine Chance. Besonders freue ich mich darüber, dass wir mit unserem Partner Redi School auch Geflüchtete für uns gewinnen wollen und können. Wir haben bereits einen Studenten aus Afghanistan.

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Wir setzen beispielsweise auf Portfolios, die ganz klar die individuellen Fähigkeiten unserer Studierenden wiedergeben. Das halte ich für sehr viel aussagekräftiger als viele Lebensläufe, in denen Schulnoten stehen.

Max Senges

Wenn man „42 wolfsburg erfahrungen“ googelt, kommt als erster Treffer ein Beitrag mit dem Titel: „Genau so was braucht man … nicht!“ Darunter üben User beispielsweise Kritik, dass von Studierenden 14 bis 16-Stunden-Tage erwartet würden – ohne Bezahlung. Was sagen Sie dazu?

Tja, Internetforen. Wir sehen das sportlich. Wir haben 24 Stunden am Tag offen. Wer etwas lernen will, muss sich dafür auch die Zeit nehmen. Der Unterschied zu Unis liegt darin, dass jeder selbst entscheiden kann, wann man etwas lernen will. Ich bin überzeugt: Man kann eigentlich nichts lehren. Wir schaffen einen Lernraum, in dem sich die Studierenden selbst bewegen. Wer sehr smart ist, muss sich nicht lange mit den Themen beschäftigen. Jeder kann seine Geschwindigkeit und Intensität wählen. Wir halten nichts davon, strikt an Zertifikaten festzuhalten. Stattdessen setzen wir etwa auf Portfolios, die ganz klar die individuellen Fähigkeiten unserer Studierenden wiedergeben. Das halte ich für sehr viel aussagekräftiger als viele Lebensläufe, in denen Schulnoten stehen.

Das 42er-Prinzip verzichtet auf Professoren, Vorlesungen und Co. Wie genau werden Studierende bei Ihnen bewertet?

Unser Ziel ist es, dass unsere Studenten in einen Lern-Flow kommen. Dann erzielen sie die besten Ergebnisse. Dafür braucht es kontinuierlich schwierige, aber machbare Aufgaben. Wer eine Aufgabe gelöst hat, reicht das Ergebnis ein. Dann bekommt man per Zufallsprinzip einen Kommilitonen oder Kommilitonin zugelost und erklärt dieser Person die eigenen Ergebnisse. Darauf folgt eine computerbasierte Überprüfung, die sehr penibel ist. Das trimmt auf Genauigkeit, was beim Coden fundamental ist. Mit jedem Mal werden die Aufgaben dann etwas schwieriger. Man steigt in Level auf. Und in regelmäßigen Abständen wird überprüft, ob man das auch ohne Google und Kommilitonen hinbekommt. Wir haben am Ende von Leveln schon auch „Endmonster“, also Examen, in denen die Studenten sehen, ob sie ein Thema wirklich kompetent und eigenständig beherrschen.

Wie stellen Sie sicher, dass Ihre Studierenden wirklich Fähigkeiten erlangen, die in Unternehmen gefragt sind?

Neben der praxisnahen Lernprojekten und dem Peer-Learning haben wir Strukturen, die einem dualen Ausbildungssystem ähneln. Zweimal gehen die Studierenden während ihrer Ausbildung bei uns in die Wirtschaft. Dabei überzeugen wir uns im Vorfeld davon, dass die Manager bzw. Mentoren in den Unternehmen sie auch passend einsetzen. Zwei Drittel bekommen übrigens bereits nach dem ersten Praktikum ein Jobangebot, ein Drittel nimmt das auch an.

Sind sie denn nach so kurzer Ausbildung tatsächlich schon weit genug?

Aus unserer Einschätzung sind die Studenten zu diesem Zeitpunkt in etwa auf Bachelor-Niveau. Der Rest kommt anschließend wieder zu uns an die Schule, wählt eine oder mehrere Spezialisierungen und macht ein zweites Praktikum. Danach hat man dann Master-Niveau. Während des gesamten Studiums setzen wir zudem auf ein Fellowship-Programm. Experten aus Wissenschaft und Praxis unterstützen die Studierenden mit Mentoring und Coaching. Sie teilen ihr Wissen in offenen Lernsessions mit den Studierenden. Danach können die Studenten auf sie zugehen und sehen, ob beide Seiten an einer Mentoring-Beziehung interessiert sind. Da sind großartige Leute etwa von Google, Microsoft, Red Hat, Volkswagen, Porsche, etc. dabei.

Können Studierende die Schule jederzeit verlassen und erhalten dann trotzdem eine Abschlussurkunde?

Wer sehr schnell sein will, wird von uns nicht zurückgehalten. Wichtig ist uns aber, dass sich die Studierenden schon intensiv mit der 42 beschäftigen – es ist ein Vollzeitstudium. Minimum 24 Stunden pro Woche sollten es schon sein. Neben einem Vollzeitjob geht das eigentlich nicht.

Man kann die Projekte und Examen so oft man will wiederholen. Ein „schneller“ Verlauf sieht bei uns so aus: 12 Monate Grundstudium, 6 Monate Praktikum. 1,5 Jahre Spezialisierung, dann ein zweites Praktikum und dann geht es in den Job.

Lassen Sie uns über die Spezialisierung sprechen. Eine davon ist auf den Automotive-Sektor ausgelegt. Was muss ein Software-Entwickler können, der in der Mobilitätsbranche durchstarten will?

Wir haben bis heute 15 Experten aus Wissenschaft – etwa Professoren von der TU München oder der TU Braunschweig – und den Forschungsabteilungen der Wirtschaft zusammengebracht, um zu entscheiden, welche Skills Software-Entwickler für die Automobilbranche brauchen. Drei große Felder haben sich herauskristallisiert. Einmal Embedded Systems. Also das Auto als Hardware, das man mit Sensorik, einem Betriebssystem bis hin zur Cloud automatisieren muss. Dann natürlich autonomes Fahren. Wer da die Grundlagen nicht versteht, wird es im Auto-Umfeld künftig schwer haben. In beiden Gebieten kann man übrigens sehr gut an Raspberry-Pi-Modellautos lernen. Drittes Feld: Mobility Ecosystems. Autonomes Fahren ist sicher wichtig in der Wüste oder nachts auf Alpenstraßen. Aber in über 90 Prozent der Fälle wird es um kooperatives Fahren gehen. Verkehrsfluss, Sicherheitswarnungen und Co. – das sind keine Leistungen, die ein einzelner Player bereitstellt, sondern wofür es ein gemeinsames Ökosystem braucht. Dafür braucht man Interoperabilität. Das Thema liegt mir als Internet-Enthusiast besonders am Herzen.

Aber arbeiten die meisten Automobilhersteller aktuell nicht eher an ihren eigenen Lösungen statt an übergreifenden Systemen?

Tatsächlich bin ich sehr verwundert darüber, dass die Automotive-Welt mit dieser Idee noch fremdelt. Meiner Meinung nach müssen wir die offene Internet-Denke in die Mobilität bringen. Es geht nicht darum, das nächste Google, Amazon oder Facebook für den Verkehr zu schaffen, sondern Dienste ähnlich dem Web als offene Plattform für alle Akteure nutzen. Das Netz ist nicht umsonst der Innovationstreiber schlechthin. Der Zugang ist einfach, alle können mitmachen.

Die Idee, dass Daten das neue Öl sind, ist Schwachsinn. Daten werden nicht weniger, wenn man sie teilt. Das verstehen viele aber leider noch nicht.

Max Senges

Nur will von den Auto-Unternehmen niemand gerne seine Daten teilen …

Die Idee, dass Daten das neue Öl sind, ist Schwachsinn. Daten werden nicht weniger, wenn man sie teilt. Das verstehen viele aber leider noch nicht. Natürlich sind beispielsweise Sicherheitsfragen ein Thema. Man bekommt online ab und zu eine 404-Fehlermeldung. Und selbstverständlich darf es keine Coding-Fehler geben, wenn ein Auto mit 200 km/h unterwegs ist. Aber ist das Internet schon einmal komplett zusammengebrochen? Nein. Ein schönes Beispiel für Open Source, dass ich gerne heranziehe: Volvo hat 1956 den Dreipunktgurt allen zugänglich gemacht. Das hat seitdem unzählige Menschenleben gerettet. Und ähnlich sollten wir auch mit unseren Themen jetzt vorgehen. Für jede Marke bleibt trotzdem genug Raum zur Differenzierung. Ich sehe aktuell aber eben leider viel Brachland beim Thema Open Source. Da bestehen große Chancen, etwas zu bewegen. Mit guter Digitalisierung kann man noch sehr viel erreichen.

Ihre Ideen müssen natürlich auch finanziert werden. Die 42 Wolfsburg wird im ersten Jahr mit 3,7 Millionen Euro von Volkswagen gefördert. Haben Sie sich schon weitere Gelder von Volkswagen oder auch anderen Unternehmen sichern können?

Die 3,7 Millionen Euro waren dafür, die Schule an den Start bringen zu können. Für die Folgejahren ist Volkswagen jetzt mit zwei Millionen Euro pro Jahr dabei. Die Grundkapazität ist also gesichert. Wir freuen uns, dass immer mehr Partner dazukommen, die durch Technologie, Sachspenden, Knowhow und Funding unterstützen. Zu nennen sind dabei beispielsweise Microsoft, Google oder Opensource-Spezialist Red Hat. Wir haben eine lange Liste von großen und kleinen Partnern, die Praktika anbieten und Experten bereitstellen. Wir wollen auch noch weitere deutsche Automobilhersteller für uns gewinnen. Manche engagieren sich bereits mit Experten, aber noch nicht institutionell. Und auch bei Zulieferern sehen wir noch viel Potenzial.

Volkswagen will die eigene Software-Kompetenz stark ausbauen. Beispielsweise soll die interne Einheit Cariad von aktuell 4.000 auf bis zu 10.000 Mitarbeiter wachsen. Wie viel Druck haben Sie aus dem Konzern, möglichst schnell möglichst gute Leute auszubilden?

Das Interesse ist natürlich da. Cariad-Personalchef Rainer Zugehör ist Mitglied in unserem Verein und sehr aktiv. Aber unsere Studenten entscheiden, wo sie später arbeiten wollen. Wir haben Botschafterrollen für Studenten ausgeschrieben. Die Cariad-Rollen waren schnell weg. Da besteht also großes Interesse. Wir sind aber ein unabhängiger Verein. Es ist Cariads Job, attraktiv für unsere Studierenden zu sein.

Bei der 42 Wolfsburg soll es nicht bleiben. Haben Sie schon weitere Standorte im Blick?

In Wolfsburg läuft es. Diese Hürde haben wir erfolgreich genommen. Bei allen Partnern ist der Appetit geweckt, um am Ball zu bleiben. International entstehen im Jahr mehrere Schulen. Daran zeigt Volkswagen auch schon Interesse. In nicht allzu ferner Zukunft wird es wohl auch in Deutschland neue Standorte geben.

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