Automatisiertes Fahren Fahrerassistenzsysteme: Wird Level 2+ der neue Standard?
Autor / Redakteur: Sven Prawitz / Maximiliane Reichhardt
Das hochautomatisierte Fahren bleibt noch lange ein Zukunftsprojekt. Unterdessen packen die Automobilhersteller mehr Funktionen in Level-2-Fahrerassistenzsysteme, Stichwort: Level 2+. Die Technik kommt von den Automobilzulieferern, die ihre Systeme verstärkt standardisieren. Ein Überblick.
Der Fahrer bleibt in der Verantwortung: Der Autobahnpilot (Level 3) kommt wohl bei einigen OEMs als Assistenzsystem Level 2+ auf den Markt.
(Bild: Continental)
Lange galt das hochautomatisierte oder autonome Fahren als das große Versprechen der Automobilindustrie an die Endkunden. Die sollten sich während der Autofahrt ihren Lieblingsbeschäftigungen widmen können: Lesen, Fernsehen oder Arbeiten. Schnell gab es Studien, die das Auto als weiteren „Lebensraum“ interpretierten. Bis vor wenigen Monaten war die Branche noch recht optimistisch, die SAE-Level 4 und 5 bald zu erreichen.
Bei beiden Level ist kein Eingriff durch den Menschen mehr nötig – bei Stufe 5 entfallen sogar das Lenkrad und die Pedale komplett. Doch die Entwicklung der automatisierten Systeme verschlingt unglaublich viele Ressourcen. Zudem werden die Herausforderungen eher größer als kleiner, je intensiver sich die Ingenieure und Programmierer mit dem Thema auseinandersetzen.
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Der Fahrer bleibt in der Verantwortung: Der Autobahnpilot (Level 3) kommt wohl bei einigen OEMs als Assistenzsystem Level 2+ auf den Markt.
(Bild: Continental)
Lange galt das hochautomatisierte oder autonome Fahren als das große Versprechen der Automobilindustrie an die Endkunden. Die sollten sich während der Autofahrt ihren Lieblingsbeschäftigungen widmen können: Lesen, Fernsehen oder Arbeiten. Schnell gab es Studien, die das Auto als weiteren „Lebensraum“ interpretierten. Bis vor wenigen Monaten war die Branche noch recht optimistisch, die SAE-Level 4 und 5 bald zu erreichen.
Bei beiden Level ist kein Eingriff durch den Menschen mehr nötig – bei Stufe 5 entfallen sogar das Lenkrad und die Pedale komplett. Doch die Entwicklung der automatisierten Systeme verschlingt unglaublich viele Ressourcen. Zudem werden die Herausforderungen eher größer als kleiner, je intensiver sich die Ingenieure und Programmierer mit dem Thema auseinandersetzen.
Level 4 und 5 vorerst nur im kommerziellen Bereich
Noch im März 2018 verkündete GM, im Jahr 2019 vollautomatisierte Pkws auf den Markt zu bringen. Der Chevrolet Bolt sollte die Basis für das erste Serienfahrzeug ohne Lenkrad bilden – den Cruise AV. Doch im Juli dieses Jahres gab der OEM das vorläufige Aus bekannt: Laut Dan Ammann, Chief Executive Officer der GM-Tochter Cruise, benötigt man weitere Tests. Ein neues Datum für den kommerziellen Start des Projekts nannte er nicht. Mittlerweile ist klar: Das automatisierte Fahren der Level 4 und 5 ist für den Privatkundenmarkt mittelfristig nicht umsetzbar.
Es fehlt schlicht das Geschäftsmodell, das die hohen Kosten für die Entwicklung, Validierung und die zusätzlichen Komponenten im Fahrzeug abbilden kann. So verkündete beispielsweise PSA-Entwicklungschef Gilles Le Borgne während des Genfer Autosalons, dass es in der PSA-Gruppe nur Systeme bis Level 3 für den Privatkundenmarkt geben werde. Auch beim Zulieferer ZF sieht man das hochautomatisierte Fahren nur im kommerziellen Bereich. Unter anderem im Joint Venture Ego Moove sollen die Systeme zur Marktreife entwickelt werden, um dann im Realbetrieb zu sehen, wie robust sie sind.
Vorschriften, Gesetze, Versicherungen und sogar Verbraucher sind möglicherweise noch nicht bereit für automatisiertes Fahren der Stufen 4 und 5
Kevin Lu, Director of Product Development Near Field ADAS bei Magna
Im Fokus: Die Fahrerassistenzsysteme
Auch wenn die Premiumhersteller BMW und Daimler – bald mit Audi? – gemeinsam in einer Allianz hochautomatisierte Serien-Pkws bis 2024 auf den Markt bringen wollen, in den Fokus rücken mehr und mehr die Fahrerassistenzsysteme. „Vorschriften, Gesetze, Versicherungen und sogar Verbraucher sind möglicherweise noch nicht bereit für automatisiertes Fahren der Stufe 4 und 5“, mutmaßt Kevin Lu, Director of Product Development Near Field ADAS bei Magna. Das sind – neben der noch nicht ausgereiften Technik – sicherlich momentan die wichtigsten Gründe, weshalb auf absehbare Zeit keine Level-4- und Level-5-Systeme auf öffentlichen Straßen eingesetzt werden.
Die Entwicklungsarbeit der vergangenen Jahre ist aber nicht umsonst. Vor allem die klassischen Fahrerassistenzsysteme, kurz ADAS (Advanced Driver Assistance Systems) genannt, profitieren von den hohen F&E-Investitionen in diesem Bereich.
In der Branche spricht man bereits von Level 2+: Ein System also, das nach SAE den Fahrer bei der Längs- und Querführung des Fahrzeugs unterstützt, künftig jedoch deutlich robuster und mit höherem Funktionsumfang. Denn die Automobilhersteller könnten zum Beispiel einen Autobahnpiloten (Level 3) als Level 2+ verkaufen. Das hätte für den OEM den Vorteil, dass die Haftung beim Fahrer bleibt.
Und ein weiteres, bisher noch ungelöstes Problem wird dadurch umgangen: Die Übergabe der Steuerung von der Maschine zum Menschen. „Schaffen es Fahrer, die E-Mails schreiben oder Bücher lesen, in adäquater Zeit, auf kritische Situationen zu reagieren?“, äußert Christophe Marnat, Executive Vice President Electronics and Advanced Driver Assist Systems bei ZF, seine Zweifel. Bei Level 2 sind schließlich Nebentätigkeiten nicht erlaubt.
Die für Level 3 nötige Technik hält Marnat für ausgereift. Trotzdem passiert auf der Sensorseite noch viel, wie „Automobil-Industrie“ in Gesprächen mit Zulieferern erfahren hat. Bei den Radargeräten endet im Jahr 2022 die Freigabe für das 24-Gigahertz-Band; sowohl in den USA als auch in der EU. Deswegen nutzen neue Radare eine Frequenz von 77 GHz. Mit der neuen Technik lässt sich laut Kevin Lu eine deutlich bessere Auflösung erzielen. Außerdem sei die Objektisolation – sehr kleine Objekte neben großen Objekten – nun weitreichender.
Auch Christian Schumacher, Vice President Program Management Systems im Conti-Geschäftsbereich ADAS, unterstreicht die Qualitäten des neuen Radars: „Der 77-GHz-Sensor erkennt Bewegungsrichtungen und Geschwindigkeiten exakter, als das im bisher genutzten 24-GHz-Bereich möglich gewesen ist.“ So setzt Continental die Radartechnik etwa für den Rechtsabbiegeassistenten für Pkws und Lkws ein. Marnat nennt einen weiteren Grund für eine steigende Zahl an verbauten Radarsensoren: „Eckradare sind der Schlüssel zur Erfüllung der Euro-NCAP-Anforderungen“.
Eckradare sind der Schlüssel zur Erfüllung der Euro-NCAP-Anforderungen.
Christophe Marnat, Executive Vice President Electronics and Advanced Driver Assist Systems bei ZF
Kameras erfassen die Umwelt
Den größten technologischen Schritt wird die Kameratechnik in den kommenden Jahren machen. „Wir werden immer häufiger Surround-Kameras und aktive Kameras mit besserer Auflösung und höherer Reichweite sehen“, schätzt Marnat die künftige Fahrzeugausstattung ein. Magna-Experte Lu geht von bis zu zwölf Kameras pro Fahrzeug aus. „Diese Sensoren werden die Umwelt des Fahrzeugs zu 360 Grad erfassen“, sagt Anatoliy Reinhardt, Director DACH beim Zulieferer Mobileye. Allerdings bleibt das Problem, dass Kameras bei schlechter Sicht kaum nützliche Daten erzeugen.
Deshalb hat Mobileye begonnen, mit seinen aktuellen Seriensystemen Daten zu Fahrspuren und Straßenzustände zu sammeln. In einem „Roadbook“ erstellt der Zulieferer damit eine Karte, die den Kamerasensoren zusätzliche Landmarken liefert. Das soll helfen, beispielsweise bei fehlenden Fahrbahnmarkierungen oder gleißendem Gegenlicht trotzdem korrekte Informationen für den Spurhalteassistenten zu liefern.
Damit die Daten der höher auflösenden Kameras auch verarbeitet werden können, braucht es entsprechende Rechenleistung. Seitens Magna geht man daher von einer zunehmenden Bedeutung der Domain Controller aus – „sie werden größer und mehr Rechenleistung bieten“, sagt Lu. Mobileye versucht hier möglichst sparsam mit Rechenkapazitäten umzugehen. Bei gleichbleibender Informationsmenge soll laut Reinhardt die Datengröße reduziert werden: „Dies ermöglicht einen Datenaustausch von weniger als durchschnittlich zehn Kilobyte pro Kilometer.“ Auch Schumacher spricht von einer Herausforderung durch „die sehr rechenintensive Erfassung und Fusion von komplexen Sensordaten“.
Bordnetz mit Hochleistungsrechner – schlecht für E-Autos?
Martin Schleicher, Executive Vice President Business Management bei der Conti-Tochter Elektrobit, sieht vor allem in den neuen Bordnetzarchitekturen viel Potenzial für Level-2+-Systeme. Mit den neuen Architekturen kommen Hochleistungsrechner, auch HPC (High Performance Computing) genannt, zum Einsatz. „Diese HPC-Systeme stellen eine Rechenleistung zur Verfügung, die im Verbund mit neuartigen Softwarearchitekturen die Leistungsfähigkeit signifikant verbessern und neue Funktionen von Fahrerassistenzsystemen ermöglichen.“
Der neue VW ID 3 bekommt zum Beispiel eine solch neuartige E/E-Architektur, an der auch Continental und Elektrobit mit Komponenten beteiligt sind. Stellt sich die Frage, ob gerade bei rein elektrischen Fahrzeugen die mögliche Reichweite unter den leistungsstarken Rechensystemen leidet. Das könnte ab Level 3 der Fall sein.
„Auch mit hoher Effizienz durch dedizierte Beschleuniger und ähnliche Technologien sind Verbräuche von über 600 Watt im Gespräch“, erklärt der Elektrobit-Chef und fügt hinzu: „Das wird spürbare Konsequenzen für die Reichweite von EVs haben.“ ZF-Mann Marnat schätzt den Stromverbrauch eines Level-2-Systems auf 30 bis 40 Watt ein. „Die Auswirkungen auf die Reichweite eines Elektrofahrzeugs sind damit eher gering.“
Bei Level-4-Systemen rechnet Marnat mit einem Reichweitenverlust von etwa zwei Prozent. Anatoliy Reinhardt erwartet daher, dass „relevante Rechenvorgänge in Rechenzentren ausgelagert werden, um den Energiebedarf zu reduzieren“. Das wiederum setzt eine stabile Vernetzung über das 5-G-Netz voraus.
Kontroverse Lidar: Wichtig oder überflüssig?
Über den Lidar-Sensor wird momentan innerhalb der Branche kontrovers diskutiert. Tesla will weiterhin auf diesen Sensortyp verzichten – auch bei den geplanten Level-4-Funktionen. Audi hingegen verbaut Lidare bereits in mehreren Modellen in Serie. Die Kosten für diese Sensoren müssen deutlich sinken, darüber ist man sich einig. Alleine mit Skaleneffekte der Massenproduktion wird das nicht gehen. Deswegen entwickeln OEMs, Zulieferer und Halbleiterindustrie auf breiter Front neue Technologien.
Die Solid-State-Technik, bei der der Laserstrahl rein elektronisch gesteuert wird, ist noch nicht serienreif. Der Halbleiterhersteller AMS forscht beispielsweise auf dem Gebiet der Oberflächenemitter (engl. vertical-cavity surface-emitting laser, VCSEL). Bei dieser Technik tritt das Licht aus der Oberfläche des Halbleiters aus. „Ein Solid-State-Lidar kann sehr gut in Autos integriert werden“, nennt Marnat einen Vorteil der Technologie. „Aber, wir müssen die Kosten senken und die Reichweite sowie die Auflösung verbessern.“ Vor wenigen Wochen verkündete ZF eine Entwicklungskooperation mit Ibeo und AMS, die genau diese Punkte angehen soll.
Weitere Option: Mikrospiegel
Eine weitere Technologie sind Mikrospiegel, die das Licht lenken: die sogenannten MEMS (microeletromechanical systems). Hier ist Marnat skeptisch: „Der MEMS-Lidar bietet auf dem Papier viele Möglichkeiten. Allerdings kann es aufgrund der fehlenden Reife der Technologie länger dauern, bis wir dort ankommen.“ Jürgen Ludwig, Director Business Development beim Lidar-Hersteller Cepton, vergleicht die Entwicklung bei der Lidar-Technik mit der von Kamera und Radar. Beide Systeme sind in den Neunzigerjahren erstmals in Serie gegangen. Erst seit wenigen Jahren sind sie Standard in der Fahrzeugausstattung. Bei diesem Maßstab dauert es noch 15 Jahre, bevor Lidar im Massenmarkt ankommt.
Für die nun angedachten Assistenzsysteme mit Level 2+ braucht es den Lidar ohnehin nicht. Der Fahrer ist in der Verantwortung und sorgt so für die nötige Redundanz. Premiumhersteller wie Audi können aus den vielen Serienfahrzeugen jedoch wertvolle Daten aus dem Alltagseinsatz der Technik sammeln. Generell wird die Methode, Daten im Serieneinsatz zu sammeln, wichtiger. „Über die Serieneinführung von Level-2+-Systemen können bereits eine Vielzahl an Daten eingefahren werden, die später bei der Realisierung von höheren Automatisierungsgraden genutzt werden können“, nennt Contis ADAS-Experte Schumacher einen Vorteil.
Daten, die sinnvoll aggregiert und ausgewertet wieder in die Simulation und Entwicklung einfließen. „Das könnte eine Strategie sein, die sich langfristig auszahlt“, bestätigt Christophe Marnat. Er geht zudem davon aus, dass künftig Systeme, die technisch gesehen die Kriterien des Level 3 erfüllen, als Level 2+ verkauft werden. Laut Marnat auch, um damit zusätzliche Daten zu generieren. Er gehe nicht davon aus, dass es viele Level-3-Systeme auf dem Markt geben wird.
Unser Ziel ist, durch Standardisierung und Re-Use die Reife zu erhöhen und Kosten zu senken.
Martin Schleicher, Executive Vice President Business Management bei Elektrobit
Wachsender Validierungsumfang
Ein Beispiel, wie auch andere von den Daten profitieren können: Continental entwickele zusammen mit dem Start-up Automotive Artificial Intelligence eine skalierbare und modulare Entwicklungs- und Testumgebung, erklärt Schumacher. Ziel sei es, den wachsenden Validierungsumfang im Bereich des automatisierten Fahrens abzudecken. „Die entwickelten Simulationstools werden der gesamten Automobilindustrie zur Verfügung gestellt werden“, kündigt Schumacher an.
Bei Elektrobit steht die Vereinheitlichung ebenfalls weit oben auf der Agenda. „Unser Ziel ist, durch Standardisierung und Re-Use die Reife zu erhöhen und Kosten zu senken“, sagt Schleicher. Einen sehr ähnlichen Weg beschreibt Magna-Experte Lu: „Wir befassen uns mit der Plattformentwicklung wiederverwendbarer Bausteine einschließlich Hardware, Software und Herstellungsprozess.“