Lieferketten „Wir brauchen wieder mehr Macher in Deutschland“
Wie verändert der Ukraine-Krieg die Logistik? Wie wirkt sich der Chipmangel aus? Welchen Wandel erlebt die Branche? Der Logistik-Experte Stefan Iskan ordnet im Gespräch die aktuellen Entwicklungen ein; und hat Verbesserungsansätze.
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Herr Iskan, „Globale Lieferketten: 10 aktuelle und künftige Risiken für Ihre Produktion“ – lautet der Titel für Ihr kommendes Webinar. In unseren Vorgesprächen fiel auch der Begriff Kalter Krieg 2.0. Was meinen Sie damit?
Es geht weniger um die Blöcke des kalten Krieges als vielmehr um die sich schon länger abzeichnende geopolitische Ausrichtung in unseren Supply Chains. Im Blickpunkt stehen hier auch die Märkte, die sich um Chinas neue Seidenstraße-Initiative drehen. Also Zentral mit den CIS-Staaten, die Türkei, Südostasien, Afrika und Lateinamerika. Nehmen wir jetzt noch Indien und weitere Märkte hinzu, dann bekommen wir eine Karte von Märkten, die sich nicht oder nicht vollumfänglich an den Wirtschaftssanktionen gegen Russland beteiligen. Der Unterschied zum kalten Krieg 1.0 ist nicht rein Ost gegen West. Der kalte Krieg 2.0 ist multipolar und dreht sich um die Schlacht um Eurasien und damit um ihre geopolitisch relevanten Zukunftsmärkte.
Gerade in den osteuropäischen Ländern der neuen Seidenstraße sind deutsche Unternehmen etwa aus dem Automotive-Bereich aktiv. Nahm man auf politischer Ebene an, dort so Einfluss zu behalten und zu sichern?
Bei den Seidenstraßen-Gesprächen ist die EU erst sehr spät und zögerlich eingestiegen. Ohnehin erscheint es, als hätte man auf geopolitisch entscheidende Märkte in den vergangenen Jahren den politischen Zugriff immer mehr verloren. Nehmen wir die Märkte auf der neuen Seidenstraße und greifen den Balkan heraus: Dort ist ein stark investierendes China ein attraktiverer Partner, dem man sich öffnet. Der Balkan ist ohnehin historisch auch im Einflussbereich Russlands und der Türkei. Das gilt jedoch für viele Märkte, die in Chinas One-Belt-One-Road-Initiative eingebunden sind. Hier scheint man mehr realpolitisch zu agieren.
Der Umbruch ist nicht nur geopolitisch.
Aber welche Rolle spielen in einer solchen Gemengelage künftig die Logistik und die Lieferkette?
Wir dürfen heute Lieferketten nicht mehr nur aus einer operativen Funktion heraus betrachten. Logistik ist heute vor allen Dingen eins: geostrategisches Management und der Zugriff auf geostrategische Infrastruktur. Für alle Branchen, Volkswirtschaften und alle Gesellschaften. Der Russland-Ukraine-Konflikt und die Corona-Pandemie sind nur die „Hallo-Wach“-Ereignisse. Doch vor lauter „Geiz-ist-Geil-Logistik-und-Einkauf“-Mentalität scheinen das die verantwortlichen Supply-Chain-Einheiten in der Industrie ausgeblendet zu haben. Man hat gedacht, das Ausquetschen der Zitrone ginge ewig so weiter. Das holt die Manager jetzt ein.
Stichwort Geostrategie: Was wäre, wenn China ähnlich aggressiv gegen Taiwan vorgehen würde wie derzeit Russland gegen die Ukraine. Würden wir ähnliche Sanktionen erleben?
Auszuschließen ist das politisch im Kampf der Supermächte USA und China nicht. Doch gegenüber China könnten wir uns solche Sanktionen wohl nicht leisten. Dafür bestehen ökonomisch zu viele Abhängigkeiten: von Halbleitern, den Zwischenproduktionsstufen bis in den Absatzmarkt für diverse Industrien. Darüber hinaus wurden in der Corona-Pandemie und auch jetzt im Russland-Ukraine-Konflikt wieder einige Produktionsumfänge im Automotivesektor nach China als Backup-Standbein geroutet.
Ein viele Branchen betreffendes Problem bleibt der Halbleiter-Mangel. Sehen Sie eine Entspannung?
Wir müssen unterscheiden zwischen sogenannten Legacy Nodes und Chips der neuen Generation. Die gute Nachricht: Bis Sommer wollen manche Halbleiterproduzenten mit der neuen Chip-Generation lieferfähig sein. Das zweite Halbjahr wird also etwas besser, wenn wir die Transportlogistik-Herausforderungen ausblenden. Einmal ganz abgesehen von den aktuellen Auswirkungen des Russland-Ukraine Kriegs und der Zero-Covid-Strategie Chinas: Stichwort Shanghai & Co. Die Ukraine exportiert zudem signifikant Neongas. Diese Chip-Generation ist aber nicht für die Automotive-Industrie gedacht. Für diese und ihre sogenannten Legacy Nodes zieht sich daher die Halbleiter-Versorgungskrise weiter bis in 2023 und darüber hinaus.
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Wichtiger ist, dass Probleme der Supply Chain im Halbleitersektor künftig zunehmen könnten. Die Lieferanten sitzen in Südostasien. Aufgrund des Klimawandels werden dort künftig deutlich mehr Tropenstürme erwartet. Zu bedenken ist aber auch der Umgang mit dem Faktor Wasser, der für den Herstellungsprozess erforderlich ist.
Um den Abhängigkeiten in der Lieferkette zu begegnen, sprechen viele Unternehmen von Deglobalisierung und Regionalisierung als mögliche Lösung. Welche Entwicklungen sehen Sie hier?
Wir sprechen auch im Webinar über Deglobalisierung, Lokalisierung und Regionalisierung von Supply Chains. Der Russland-Ukraine-Krieg und auch die Corona-Pandemie sind nur die augenscheinlichen Events für viele Menschen. Dabei gibt es diese Debatte schon länger, um weltweite Zollkonflikte. Vor allem die Industrie 4.0 ermöglicht mittels Prozessautomatisierung die Rückverlagerung aus Low-Cost-Countries in Hochlohnstandorte. Mit Blick auf etwaige Supply-Chain-Vorstufen in Europa laufen jetzt die Projekte in der Industrie. Doch die Firmen dürften im Moment noch kein vollständiges Bild davon haben, wo sie künftig ersatzweise selbst produzieren oder fertigen lassen sollen. Wir haben vor der Pandemie in Ost- und Südosteuropa nahezu Vollbeschäftigung erlebt. Deshalb ist es noch nicht klar, wie und wo künftig gewisse Zwischenkomponenten gefertigt werden.
Dennoch: Was werden die Kernpartnerländer in Osteuropa für die deutsche Industrie sein, wenn die Relokalisierung Fahrt aufnimmt?
Profiteure werden die qualitativ höher ausgebildeten Länder Ost- und Südosteuropas sein. Das sind Polen, Ungarn, Tschechien, die Slowakei und geostrategisch allokiert die Türkei. Diese Märkte haben einen Vorteil bei der Rückverschiebung. Gerade die Erstgenannten waren aber vor der Pandemie schon mit Vollbeschäftigung ausgelastet. Die Türkei punktet zudem jetzt schon: Das Material-Routing Richtung Russland läuft jetzt wieder über das Land und über Aserbaidschan.
Wir erleben eine Zeit des viel zitierten Umbruchs. Was bedeutet der Begriff für Sie in Bezug auf die Lieferketten?
Der Umbruch ist nicht nur geopolitisch. Es geht um Dekarbonisierung, Kapazitätsverknappung bei Rohstoffen, Industrien, denen die willigen Supplier und Logistiker ausgehen, Lkw-Fahrermangel oder auch Kostenexplosionen in der Transportlogistik. Ein weiterer Umbruch ist die Schlacht um die End-to-End-Supply-Chain, die sich vor allem zwischen Amazon und den Reedereien beziehungsweise großen Logistikunternehmen abspielt. Dann können wir über den Umbruch sprechen, der sich auf den Bereich Human Resources bezieht: In den Konzernen tauscht man derzeit aus Kostengründen erfahrene Einkäufer im Lieferanten- und Logistiknetzwerk gegen junge, wenig erfahrene Führungskräfte und Mitarbeiter aus. Die alten Hasen auf der Supplier- und Logistikseite können hier Vorteile bei den Verhandlungen ausspielen. Job Rotation ist ein enormes Instrument. Aber nur dann, wenn es qualifiziert ist. Logistik, Produktion, Einkauf sind keine Spielwiesen für funktionsfremde Schönwetter-Direktoren ohne Shopfloor Bezug.
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Infolge der Supply-Chain-Probleme kommen Unternehmen in der Kette auch in finanzielle Nöte. Gibt es hier ein gemeinschaftliches Agieren oder ist jeder sich selbst der nächste?
Wir erleben hier unterschiedliche Wahrnehmungen der Probleme. Während einige Kunden – etwa im Automotive-OEM-Umfeld – das Painsharing verstanden haben und die negativen finanziellen Folgen mit ihren Lieferanten und Logistikern gemeinsam schultern, lassen andere diese mit den Folgekosten über einen längeren Zeitraum allein, verzögern Verhandlungen oder nehmen damit finanzielle Schieflagen in Kauf. Die OEMs haben nach der Finanzkrise 2008/2009 nur wenig an ihrem Verhalten geändert. Auch in der Halbleiterkrise waren die Abrufe wieder extrem kurzfristig. Getätigte Abrufe wurden verschoben oder gestrichen, um dann in einem Management-Letter vor Weihnachten die Supplier und Logistikdienstleister an ihre Verträge und damit Kapazitätsbereitstellung zu erinnern.
Rohstoff- und Energiesicherheit sind zwei wesentliche Probleme, die durch den Ukraine-Krieg noch deutlicher geworden sind. Die Politik hat hier keine richtigen Antworten. Werden womöglich auf regionaler Ebene Energieselbstversorger entstehen, die sich aus diversen Unternehmen zusammensetzen?
Lassen Sie mich so einsteigen: Die Unternehmen sind noch mehr gefragt, Themen selbstverantwortlich zu durchdenken. Mir scheint es jedoch, als würden gerade in Konzernen sich Einzelne durch die bestehenden hierarchischen Strukturen zurücknehmen und auf die Entscheidungsfähigkeit der Vorgesetzten hoffen. Wir brauchen jedoch wieder mehr Macher in Deutschland und kein noch mehr an Mikrocontrollern. Das Aussitzen von Entscheidungen und Management in kleinen Schritten ist vorbei. Und wenn das vorher eine Kompetenz von Konzernen war, weshalb beherrschen das immer mehr Führungskräfte auch im Mittelstand?
Zur Energie: Hier werden doch schon seit längerem hoheitlich staatliche Aufgaben zunehmend auf die Privatwirtschaft übertragen. Die Unternehmen werden versuchen, zeitnah autark zu werden, da im Rahmen staatlicher Strukturen eine schnelle Umsetzung nicht zu erwarten ist. Das können Sie schon bei LNG-Versorgungspunkten in der Automobilindustrie in Österreich beobachten.
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