Fahrwerk Steer-by-Wire: Hella und Geely planen Serienreife 2026

Aktualisiert am 14.10.2022 Von Henrik Bork

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Lenken per Kabel: Daran arbeiten seit Jahren vor allem deutsche Zulieferer. Jetzt will eine deutsch-chinesische Kooperation den Markt aufrollen. Ein weiterer Zulieferer könnte ihnen jedoch zuvorkommen.

Lenken ohne Lenkstange: Hella und Geely wollen die Technologie zusammen zur Serienreife entwickeln.
Lenken ohne Lenkstange: Hella und Geely wollen die Technologie zusammen zur Serienreife entwickeln.
(Bild: Hella)

Da braut sich ein deutsch-chinesisches Komplott gegen die Lenkstange zusammen.Hella und Geely wollen sie gemeinsam abschaffen, ihre Funktion durch rein elektrische Signale ersetzen. Diese „Steer-by-Wire“-Technologie wollen die Unternehmen gemeinsam zur Serienreife entwickeln. Zuerst soll sie serienmäßig in Autos des chinesischen Herstellers zum Einsatz kommen, voraussichtlich im Jahr 2026. Dann aber auch an andere Hersteller verkauft werden, hieß es.

Als Teil seines neuen Mutterkonzerns Forvia verstärkt Hella damit seinen Vorstoß in neue automobile Geschäftsbereiche, in denen Software, Chips und Elektronik die gute alte Hydraulik und Mechanik im Auto verdrängen. Steer-by-Wire, einst für Flugzeuge entwickelt, ist eines dieser Felder.

Für die Entwicklung einer serienreifen SBW-Systemlösung im Auto hat sich der Lippstädter Konzern mit dem „Lotus Tech Innovation Centre“ (LTIC) verbündet, einem Forschung- und Entwicklungszentrum des chinesischen Automobilherstellers Geely. Die Geely-Gruppe hatte 2017 die Mehrheit an Lotus übernommen hat.

Autonomes Fahren als Treiber

Hella fungiert in dieser neuen Partnerschaft als Zulieferer für Sensorik und Steuerungselektronik, zwei der schnell wachsenden Geschäftsbereiche des einst vor allem für seine Scheinwerfer bekannten Hella-Konzerns. „Mit der Serienentwicklung von Schlüsselkomponenten für vollelektrische Lenksysteme bauen wir unsere Marktposition in diesem zukunftsweisenden Technologiefeld weiter aus,“ sagte der Hella-Elektronik-Chef Björn Twiehaus bei der Ankündigung der Zusammenarbeit mit LTIC und dem Geely-Konzern.

Die Elektrifizierung von Fahrzeugen und ihre zunehmende Steuerung durch Software gehen ja tatsächlich Hand in Hand. Für Chassis und Lenkung entstehen dadurch neue Anforderungen. Um höhere Stufen des autonomen Fahrens realisieren zu können, muss die Lenkung der Räder unabhängig vom Fahrer gesteuert werden können. Steer-by-Wire (SBW) gibt solche Fahrbefehle künftig vollelektrisch und erübrigt damit eine mechanische Verbindung zwischen Lenkrad und Vorderachse.

In der Luftfahrt haben der Bedarf an multidirektionalem Steuern und die große Entfernung zwischen Cockpit und Heckruder schon lange der Elektronik zum Durchbruch verholfen. Den meisten Experten zufolge wird sich die Technik auch in Autos durchsetzen. Hella und Geely konkurrieren in diesem Markt mit einer wachsenden Zahl ambitionierter OEMs und Zulieferer vor allem in Deutschland und China. Hier wachsen der Enthusiasmus für intelligente Fahrzeugkomponenten und das fahrerlose Fahren besonders schnell.

Great Wall plant „Chassis-by-Wire“

So hat der größte chinesische SUV-Hersteller Great Wall Motors in diesem Sommer angekündigt, dass schon ab 2025 etwa 40 Prozent seiner neu verkauften Fahrzeuge mit fortgeschrittenen Funktionen des autonomen Fahrens ausgestattet werden sollen. Es geht dabei um Level 4, die zweithöchste Stufe.

Great Wall Motors will daher schon ab 2023 ein „Chassis-by-wire“-System bis zur kommerziellen Serienreife bringen, bei dem Bremsen und Lenkung mittels elektrischer Signale kontrolliert werden. Der Autohersteller will „Fahrzeuge bauen, die Computern auf Rädern ähneln,“ heißt es bei Great Wall Motors. Im Jahr 2021 hatte das Unternehmen ein erstes, selbst entwickeltes Steer-by-Wire-System vorgestellt.

Changan Auto, ein weiterer staatlicher Autohersteller in China, rüstet seine „CX30-Plattform“ ebenfalls schon von Hydraulik auf SBW um. Der in Chongqing beheimatete OEM hat dafür mit Fahrtests begonnen.

Das chinesische Unternehmen DECO in Tianjin forscht eigenen Angaben zufolge schon seit 20 Jahren an entsprechenden Konzepten und hat die Serienproduktion für ein „voll redundantes SBW“ für das Jahr 2024 angekündigt. Redundant bedeutet, dass es ein Backup-System gibt, das beim Ausfall des Hauptsystems die Steuerung übernehmen kann.

DECO hat schon erhebliches Know-How im Bereich der Fahrzeuglenkung angehäuft. Der Hersteller hat bislang rund 1,6 Millionen elektrische Power-Lenk-Systeme gebaut und verkauft – und das ist einer der technologischen Urahnen des SBW. Internationale Ambitionen gibt es auch hier: Die ECE-Zertifizierung der Europäischen Union und die IATF16949-Qualitäts-Zertifizierung hat DECO bereits erworben.

ZF kündigt Zusammenarbeit mit Autohersteller an

Historisch waren es Unternehmen in Europa und den USA, die zuerst Steer-by-Wire-Systeme entwickelt haben. TRW und Kasselmann gehörten da schon in den 50er Jahren zu den Pionieren. Nur waren die Autohersteller damals noch nicht interessiert. Die Kosten schienen zu hoch, die Sicherheit zu schwer zu gewährleisten. Die Unternehmen blieben lieber bei Lenksäule und Hydraulik.

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ZF in Friedrichshafen hat TRW übernommen und 2016 einen ersten Prototypen einer Front- und Hinterachsen-Lenkung vorgestellt, die rein elektrisch funktioniert. Jetzt heißt es am Bodensee, ZF will SBW als erster Tier-1-Zulieferer der globalen Automobilindustrie zur Serienreife bringen.

Schon im Laufe des nächstens Jahres wolle „ein großer, global agierender Automobilhersteller” die Technologie „im industriellen Maßstab” einsetzen, hatte der Zulieferer im Juli dieses Jahres verkündet. Am Freitag (14.10.) unterzeichnete ZF nun eine strategische Kooperationsvereinbarung mit dem chinesischen Autohersteller Nio.

Eines fällt unabhängig davon auf: Gerade bei führenden deutschen Zulieferern ist die nun auch von Hella verfolgte Strategie beliebt, die Entwicklung von Steer-by-Wire-Systemen gleich mit einem chinesischen Partner zu betreiben. Dieser kann dann beim Marketing und Verkauf im größten Automarkt der Erde nützlich sein.

Bosch will 2025 ein serienreifes SBW-System im Angebot haben und arbeitet daran unter anderem in seinem deutsch-chinesischen Gemeinschaftsunternehmen „Bosch Huayu Steering Systems Co., Ltd.”. Dort kooperiert der Zulieferer unter anderem mit Audi, stattet Prototypen des A3 mit SBW aus und fährt damit in China probeweise spazieren, berichtet die chinesische Autozeitung Taipingyang Qiche.

Politische Förderung am chinesischen Markt

Der chinesische Staat wittert eine Chance, mit SBW eine Zukunftstechnologie, die andere erfunden haben, zuerst in der Praxis einzuführen – und damit einen neuen Markt zu erschließen. Nicht so sehr die Grundlagenforschung. Aber die schnelle und pragmatische Umsetzung neuer Technologien ist eine chinesische Spezialität.

Chinesische Unis und Forschungsinstitute wie die Jilin University, die Shanghai Jiaotong University oder das Beijing Institute of Technology werden daher gerade großzügig mit Fördergeldern ausgestattet, um grundlegende Forschungen für SBW-Systeme durchzuführen.

Ob SBW kommt, scheint bereits keine Frage mehr zu sein, trotz einiger noch zu lösender Probleme – vor allem bei Redundanz und Sicherheit. Noch ist zudem umstritten, ob nach der Lenkstange auch das Lenkrad verschwinden wird.

Manche Autofahrer, die eigentlich ganz gerne eine Lenkrad in den Händen halten, hoffen noch, dass dieses zumindest noch ab und zu aus der Versenkung auftauchen wird. Ähnlich wie in dem Gefährt von Will Smith im Kinofilm „I, Robot“.

Bei Hella aber, also selbst in dem für seine bodenständigen Menschen bekannten Ostwestfalen, scheint es kaum noch Nostalgie für das gute alte Lenkrad zu geben. Der „freiwerdende Platz“ ließe sich prima „für größere Armaturenbretter oder Head-up-Displays nutzen“, heißt es in einer SBW-Presseerklärung von Hella in Lippstadt.

* Henrik Bork, langjähriger China-Korrespondent der Süddeutschen Zeitung und der Frankfurter Rundschau, ist Managing Director bei Asia Waypoint, einer auf China spezialisierten Beratungsagentur mit Sitz in Peking.

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