Fahrzeugsicherheit Die NCAP-Programme nehmen wieder Fahrt auf
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Nach einem Jahr des pandemiebedingten Innehaltens kommt nun eine Phase mit zahlreichen Neuerungen in den Verbraucherschutz-Testprogrammen der NCAP (New Car Assessment Program) auf die Autohersteller zu.

Den Auftakt bildet China NCAP (C-NCAP). Das chinesische Rating wird ab Januar 2022 in zahlreichen Punkten erweitert und aktualisiert. Geändert werden die aktive und passive Sicherheit gleichermaßen. So wird der neue MPDB-Crashtest (Mobile Progressive Deformable Barrier Crashtest) eingeführt. Dieser Frontalcrash gegen eine mobile deformierbare Barriere ermöglicht es erstmals, den Partnerschutz (Kompatibilität der beiden beteiligten Fahrzeuge) beim Crash zu bewerten. Speziell für Fahrzeuge mit alternativen Antrieben führt C-NCAP nun einen seitlichen Pfahlanprall ein. Für diese Fahrzeuge wird eine Bewertung der elektrischen Sicherheit ergänzt. Beim Fußgängerschutz nutzt C-NCAP als weltweit erste Organisation den neuen Beinprüfkörper „aPLI“ (advanced pedestrian leg impactor) und erweitert den Kopfanprallbereich.
In der aktiven Sicherheit kommen neue Prüfszenarien für sogenannte Autonomous-emergency-braking-Systeme (AEB) hinzu. Neu sind zudem die Bewertung von Spurhaltesystemen und die Bewertung von Scheinwerfern hinsichtlich einer guten Ausleuchtung der Fahrbahn, ohne den Gegenverkehr zu blenden. In der Gesamtbewertung steigt die Gewichtung der aktiven Sicherheit damit von 15 auf 25 Prozent. Mit diesen Änderungen reiht sich C-NCAP in die Riege der anspruchsvollsten NCAP-Programme weltweit ein.
Neues bei Euro NCAP
Zu diesen gehört Euro NCAP. Das europäische Rating-Programm, das den Kompatibilitätscrash schon 2020 eingeführt hat und mit erweiterten Seitenaufpralltests den Einbau von Center-Airbags in die neuen Fahrzeuggenerationen forciert hat, wird ein Jahr später als ursprünglich vorgesehen die nächsten Änderungen etablieren.
Ab 2023 führt Euro NCAP den neuen Beinprüfkörper „aPLI“ ein und erweitert den Kopfanprallbereich. Ebenfalls im Rahmen des Insassenschutzes wird dann bewertet, wie gut Insassen aus einem Fahrzeug gerettet werden können, das in ein Gewässer gefahren ist und untergeht. Eine weitere neue Bewertung befasst sich mit dem Schutz von Kindern, die in einem geparkten Auto zurückgelassen werden und denen Gefahr durch Überhitzen droht.
In der aktiven Sicherheit kommen etliche neue Bewertungsszenarien dazu, zum Beispiel Kreuzungsszenarien für Fußgänger- und Radfahrer-AEB. Gänzlich neue Bewertungen betreffen AEB und Spurhaltesysteme zum Schutz motorisierter Zweiräder und sogenannte Dooring-Schutzsysteme. Letztere sollen Radfahrer vor dem Anprall gegen sich plötzlich öffnende Türen von Fahrzeugen schützen, die am Fahrbahnrand geparkt sind. Ausgebaut wird die Bewertung von Systemen, die den Status des Fahrers überwachen und so helfen sollen, Unfälle durch Müdigkeit, Unaufmerksamkeit oder plötzliche gesundheitliche Beeinträchtigungen zu vermeiden.
Parallel dazu hat Euro NCAP die Arbeit an der Roadmap 2030 gestartet, die Ende 2022 veröffentlicht werden soll. Darin will man sich mit Technik von vernetzten und automatisierten Fahrzeugen befassen sowie deren Sicherheitsfunktionen, die zum Beispiel „over-the-air“-Updates ermöglichen. Im Bereich der Rating-Methoden möchte man insbesondere virtuelle Tests und die szenarienbasierte Bewertung einführen bzw. ausbauen.
Startet US NCAP wieder?
Schaut man auf die Erfinder der NCAP-Tests, nämlich in die USA, wird es in den kommenden Monaten spannend sein zu beobachten, ob die neue Regierung das unter der Trump-Administration auf Eis gelegte Update des US NCAP wieder aufnehmen wird. Da hier die neuen Test- und Bewertungsverfahren quasi fertig in der Schublade liegen, wäre eine relativ kurzfristige Implementierung möglich.
Das zweite in den USA beheimatete Rating des Insurance Institute for Highway Safety (IIHS) hat dagegen schon konkrete Pläne für 2023: Unter den geplanten Änderungen ragt vor allem der neue Seitencrash heraus. Ein neu entwickeltes Deformationselement, das der Front eines SUV entspricht, wird auf einem Trolley mit einer Gesamtmasse von 1,9 Tonnen und mit 60 km/h in die Seite des Fahrzeugs gefahren.
Vergleicht man den neuen IIHS-Seitenaufprall mit dem bisherigen (1,5 t/50 km/h) oder dem aktuellen Euro-NCAP-Seitencrash (1,4 t/60 km/h) entspricht dies einer Steigerung der kinetischen Aufprallenergie um 82 bzw. 36 Prozent. Es wird also ein erheblicher konstruktiver Mehraufwand nötig sein, um in diesem Test weiter gut abzuschneiden. Weitere Neuerungen bei IIHS sind beispielsweise Insassen auf den Rücksitzen beim Frontalcrash und Fußgänger-AEB-Tests bei Dunkelheit.
NCAP: Das planen Japan, Korea und Taiwan
Auch die übrigen NCAP-Programme gilt es im Auge zu behalten. Japan (J-NCAP, 2023) und Korea (K-NCAP, 2024) beispielsweise planen ebenfalls die Einführung des MPDB-Kompatibilitätscrashs. J-NCAP will außerdem die bisher getrennten Bewertungen für aktive und passive Sicherheit zu einem Gesamtrating zusammenführen.
Und auch ein gänzlich neues NCAP-Rating steht in den Startlöchern: Taiwan möchte ein eigenes, T-NCAP genanntes Rating etablieren. Es wird sich voraussichtlich stark an Euro NCAP orientieren. Im Januar 2021 fand der erste Spatenstich zum Bau eines neuen Testzentrums statt, das 2022 fertiggestellt werden und ab 2023 T-NCAP-Tests durchführen soll.
Es wird also weltweit weiter daran gearbeitet, durch ambitioniertere Verbraucherschutztests die Sicherheit von Pkw zu erhöhen und der Vision Zero (= keine Getöteten im Straßenverkehr) näher zu kommen.
*Ralf Reuter, Director Marketing & Operations bei Carhs.Training GmbH
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