Produktion Factory 56: „Flexibilität ist das entscheidende Stichwort“

Von Gerald Scheffels

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FTS statt Fließband, industrielles 5G-Netz, sehr unterschiedliche Modelle auf einer Linie: „Mit der Factory 56 wird die Fabrik der Zukunft bereits heute Realität“, erklärt Jörg Burzer, Vorstandsmitglied von Mercedes-Benz und verantwortlich für Produktion und Supply Chain Management, im Interview.

Elektroautos, Self-Driving-Cars oder Fahrzeuge mit Verbrennungsmotor – in der Factory 56 laufen die unterschiedlichsten Modelle auf einer Montagelinie.
Elektroautos, Self-Driving-Cars oder Fahrzeuge mit Verbrennungsmotor – in der Factory 56 laufen die unterschiedlichsten Modelle auf einer Montagelinie.
(Bild: Daimler)

Herr Burzer, mit der Factory 56 eröffnen Sie im September eine der modernsten Automobilproduktionen der Welt. Was erwartet uns in der neuen Fabrik?

Die Factory 56, die aktuell im Mercedes-Benz-Werk Sindelfingen entsteht, wird durchgängig digitalisiert, flexibel und nachhaltig. Mit ihr wird die Fabrik der Zukunft heute bereits Realität. Das bedeutet, dass moderne Technologien und Konzepte flächendeckend zum Einsatz kommen. Wir implementieren eine völlig neue Infrastruktur. Die Produktionshalle ist flächendeckend mit WLAN und in einem über 20.000 Quadratmeter großen Bereich mit einem 5G-Mobilfunknetz ausgestattet. Zudem haben wir viele neue digitale Produktionstechnologien im Einsatz, die wir sukzessive auch in unseren anderen Werken implementieren.

Jörg Burzer ist Mitglied des Vorstands der Mercedes-Benz AG.
Jörg Burzer ist Mitglied des Vorstands der Mercedes-Benz AG.
(Bild: Daimler)

Welche Fahrzeugmodelle werden Sie dort fertigen?

Wir werden hier ganz unterschiedliche Fahrzeuge produzieren. Dazu gehören die neue Generation der S-Klasse und das erste Elektrofahrzeug der Produkt- und Technologiemarke EQ „Made in Sindelfingen“.

Wie sieht das Fertigungskonzept der Factory 56 aus?

In ausgewählten Fertigungsbereichen, den sogenannten „TecLines“, lösen wir das klassische Fließband durch fahrerlose Transportsysteme ab. Indem lediglich der Fahrweg der FTS neu definiert wird, ist ein Wechsel vom Fließ- in den Taktbetrieb möglich. Das macht unter anderem für automatisierte Tätigkeiten Sinn, zum Beispiel beim Einbau des Glasschiebedachs. Durch die Kombination eines Montagebands mit der Tec-Line wird die Montage noch flexibler.

Das Fließband wurde vor rund 100 Jahren eingeführt. Warum ist es gerade jetzt an der Zeit, neue Produktionskonzepte einzuführen?

Flexibilität ist hier das entscheidende Stichwort. Die Flexibilität unserer Werke und unseres gesamten Produktionsnetzwerks ist einer unserer strategischen Pfeiler in der Produktion. Wir können in der Factory 56 nicht nur unterschiedliche Antriebsvarianten, sondern auch verschiedene Modelle auf einer Linie fertigen. Durch die Tec-Line werden wir zudem so flexibel, dass einzelne Anlagen und Komponenten mit deutlich weniger Aufwand als bisher ausgetauscht werden können.

Sie erproben in der Factory auch neue Kommunikations- und Vernetzungskonzepte, etwa mit einem industriellen 5G-Netz, in das Maschinen und Werkzeuge eingebunden sind.

Zusammen mit Telefónica und Ericsson errichten wir in der Factory 56 das weltweit erste 5G-Mobilfunknetz für die Automobilproduktion. Erstmals wird 5G in der laufenden Produktion eingesetzt. Die dort gewonnenen Erfahrungen fließen in die künftigen Einsätze in weiteren Werken aktiv mit ein. Mit diesem Meilenstein sorgen wir dafür, dass der Zukunftsstandard 5G für den Industriestandort Deutschland Realität wird. Nach Abschluss der Installation und Inbetriebnahme wird das Netz ausschließlich von uns betrieben. Wir haben bereits im vergangenen Jahr mit den ersten Testläufen begonnen. Die Ergebnisse sind sehr vielversprechend.

Bei aller Automation und Vernetzung muss man sich fragen: Welche Rolle übernehmen die Mitarbeiter in der Factory 56?

Sie stehen ganz klar im Mittelpunkt, und die Kreativität jedes Einzelnen soll gefördert werden. Hier gibt es ebenfalls neue Konzepte: Wir erproben bereits ein Modell für flexible Einsatzkräfte, einen sogenannten Personaleinsatzpool. Damit können Wünsche eines Mitarbeiters in Bezug auf seinen Einsatzplan abhängig von seiner persönlichen Situation künftig besser berücksichtigt werden. Damit fördern wir die Vereinbarkeit von Familie und Beruf.

Zudem setzen wir in der Factory 56 auf eine Beteiligung der Mitarbeiter in der Produktion von Anfang an: Erstmals wurden sie im Rahmen einer Online-Befragung eingeladen, sich am Besetzungsprozess zu beteiligen. Sie konnten beispielsweise angeben, in welcher Schicht sie gerne arbeiten würden, in welcher Halle und mit welchen Kollegen. Erfreulicherweise war die Teilnahme an der Befragung sehr hoch, und wir konnten 85 Prozent der geäußerten Wünsche berücksichtigen.

Auch bei der Energieversorgung gehen Sie neue Wege. Wie sieht das Konzept konkret aus?

Ab 2022 werden alle eigenen Mercedes-Benz Pkw-Werke CO2-neutral produzieren. Das ist ein großer Schritt in der Umsetzung unserer Strategie Ambition 2039, nach der wir ab 2039 eine CO2-neutrale Neuwagenflotte anstreben. Unsere Werke stellen wir sukzessive um. Auch hier gibt die Factory 56 die Richtung vor: Die neue Montagehalle wird bereits bei der Inbetriebnahme CO2-neutral mit Energie versorgt, über eine Photovoltaikanlage auf dem Hallendach. Hinzu kommen zahlreiche Aktivitäten zur Senkung des Energieverbrauchs und architektonische Maßnahmen wie Dachbegrünungen und eine besonders lichtdurchlässige Hallenkonstruktion.

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Welche Ideen gibt es, um den Endkunden einzubinden? Die Vernetzung bietet ja theoretisch die Möglichkeit, dass er digital verfolgt, wie sein Fahrzeug gebaut wird.

Ein wesentliches Merkmal der Factory 56 ist die 360-Grad-Vernetzung über die gesamte Wertschöpfungskette hinweg – von der Entwicklung und dem Design über die Lieferanten und die Produktion bis zu den Kunden. Im Austausch mit unseren Lieferanten und Transportdienstleistern können wir Materialströme weltweit digital nachverfolgen. Im gesamten Produktionsprozess setzen wir auf konsequente Digitalisierung: Unsere Plattform, die wir MO360 nennen, integriert alle wichtigen Digitalisierungsaktivitäten.

Eine Vernetzung mit den Kunden von Mercedes-Benz erfolgt schon heute: Neufahrzeugkäufer können beispielsweise über die App „Mercedes me“ und online unter dem Stichwort „Digitale Vorfreude“ exklusive Einblicke in die Produktion ihrer Fahrzeuge erhalten.  

Jörg Burzer

Jörg Burzer, 50, startete seine berufliche Karriere 1999 in der Fahrzeugvorentwicklung der damaligen DaimlerChrysler AG. Ab 2004 hatte er verschiedene Leitungsfunktionen im Materialeinkauf inne. Ab 2010 leitete er die Logistik und Produktionssteuerung im Mercedes-Benz-Werk Tuscaloosa (USA). Ab 2013 zeichnete er als Executive Vice President für das Produktgruppengeschäft, die Lieferantenqualität sowie die Produkt- und Standortstrategie von Daimler Greater China in Beijing verantwortlich. 2016 wurde er Leiter Qualitätsmanagement von Mercedes-Benz Cars. Seit 2019 ist der promovierte Ingenieur Mitglied des Vorstands der Mercedes-Benz AG; Produktion und Supply Chain Management.

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