Mercedes-Benz Magic Body Control – Das Fahrwerk

Autor / Redakteur: Jürgen Goroncy / Thomas Günnel

„Fliegender Teppich“ oder „Wie auf Wolken schweben“ wären etwas blumige Umschreibungen für den Fahrkomfort der neuen S-Klasse. Doch Tatsache ist: Daimler hat mit der „Magic Body Control“ einen neuen Maßstab in Sachen Fahrkomfort und Sicherheit gesetzt.

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„Magic Body Control“ heißt das aktive Fahrwerksregelsystem in der aktuellen S-Klasse. Der Hersteller setzt damit einen neuen Maßstab in Sachen Komfort und Sicherheit.
„Magic Body Control“ heißt das aktive Fahrwerksregelsystem in der aktuellen S-Klasse. Der Hersteller setzt damit einen neuen Maßstab in Sachen Komfort und Sicherheit.
(Foto: Daimler)

Ausgereifte Entwicklungen benötigen Zeit. Acht Jahre waren es im Fall des Systems Magic Body Control (MBC), das technisch auf der bekannten Fahrwerksregelung ABC (Active Body Control) basiert und mit einem Kamerasystem kombiniert ist. Letzteres erfasst die Fahrbahnunebenheiten in der Fahrspur der S-Klasse. Mit diesen Informationen werden jetzt die Federn und Dämpfer vorausschauend auf die Anregungen von der Fahrbahn eingestellt.

Ein Herzstück von MBC ist die Stereokamera von Continental an der Windschutzscheibe im Bereich des Innenspiegels. Ihre beiden CMOS-Monokameras sind in einem Abstand von 20 Zentimetern zueinander angeordnet und können die Straße bis zu einer Reichweite von 60 Meter dreidimensional erfassen.

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Bis auf wenige Zentimeter genau messen

Für MBC suchen die Sensoren die Straße bis zu 15 Meter weit nach scharfen Hell-Dunkel-Kanten ab. Dank der Parallaxen-Verschiebung zwischen den zwei Teilbildern kann die Kamera – ähnlich wie die menschlichen Augen – räumliche Distanzen erkennen und bis auf wenige Zentimeter genau messen. Von Daimler selbst entwickelte Triangulations-Rechenalgorithmen wandeln die Bilddaten zu genauen Positionsdaten der Konturen um.

Dieser „Road Surface Scan“ erfolgt aus Rechenkapazitätsgründen aber nur für diejenigen Zonen, die von den Reifen in den nächsten Momenten voraussichtlich befahren werden. Als Grundlage für die Fahrspurberechnung dienen der Lenkwinkel und andere Fahrdaten. Die Implementierung der Algorithmen in die Kamerasoftware und Prozessorhardware übernahm Continental.

20 Meter vorausrechnen

Sobald der Kameraprozessor das genaue Profil der etwa 20 Meter langen Fahrspur vor dem Fahrzeug errechnet hat, schickt er die Daten per Flexray an das Fahrwerk-Steuergerät weiter. Das errechnet daraus detaillierte Stellsignale für die Feder-Dämpfer-Kombinationen an jedem Rad der S-Klasse. „Überfährt ein Rad beispielsweise in wenigen Millisekunden eine kleine Erhöhung der Fahrbahn, gleicht der hydraulische Stellzylinder diese vorbeugend aus, sodass der Kraftimpuls von der Straße nur zu einem Bruchteil über das Rad in die Karosserie eingeleitet wird“, erläutert Stefan Cytrynski, Leiter Vernetzung aktiver und passiver Fahrwerke bei der Daimler AG. „Diese vorbeugende Anpassung des Fahrwerks ist der große Unterschied zum bisherigen ABC-System, das die Federbeine nur als Reaktion auf die bereits erfolgte Anregung verstellt.“

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Kein zusätzliches Steuergerät notwendig

Bemerkenswert ist, dass für MBC kein zusätzliches Steuergerät erforderlich war. Sämtliche Rechenvorgänge des Road Surface Scan erfolgen im bereits vorhandenen Steuergerät der Kameraeinheit am Innenspiegel. Kamera plus Prozessor versorgen in der S-Klasse noch andere Assistenzsysteme mit Umgebungsdaten, etwa die adaptive Abstandsregelung, den Spurhalteassistenten, den Bremsassistenten und die Verkehrszeichenerkennung. Ähnliches gilt für den Fahrwerk-Rechner: Er ist für die Fahrwerk-Regelsysteme der S-Klasse zuständig und erledigt die ABC-Regelaufgaben zusätzlich mit. MBC ist – vereinfacht gesagt – eine reine Softwarelösung, die lediglich Rechenkapazität beansprucht.

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Bilddaten als Höhenprofil

Größte Herausforderung während der Systementwicklung war laut Cytrynski der Transfer der optischen Kameradaten in digitale Höhenprofile. „Da die beiden Kameras 17 Bilder pro Sekunde mit jeweils Zig-Millionen Bildpunkten aufnehmen, mussten wir spezielle Algorithmen zur rationellen und gleichzeitig sicheren Umrechnung der Bilddaten entwickeln.“ Nur mittels Reduzierung der Datenfülle schon im Kamerasteuergerät sei die Weitergabe der Informationen per Flexray-Datenbus und ihre weitere Verarbeitung im Fahrwerksteuergerät im geforderten Zeitraum überhaupt möglich, sagt Cytrynski weiter.

Latenzzeit von 125 Millisekunden

Die Entwicklungsingenieure konnten die Latenzzeit des Systems auf insgesamt 125 Millisekunden begrenzen. Davon gehen etwa 55 Millisekunden auf das Konto der Bildaufnahme und Bildverarbeitung und weitere 40 Millisekunden zu Lasten des Datentransports per Flexray. Parallel zur Datenübertragung beginnt das ABC-Steuergerät bereits mit der Berechnung der Stellsignale, die im Anschluss daran innerhalb von weiteren zehn Millisekunden zum Stelleingriff am Federbein führen. Diese 125 Millisekunden bieten bis zu Geschwindigkeiten von etwa 130 Kilometer pro Stunde die volle Systemperformance.

Erst bei noch höherem Tempo ist die Latenzzeit zu lange für eine vorbeugende Änderung der Feder- und Dämpferraten. Deshalb wird in der S-Klasse Road Surface Scan oberhalb von 130 Kilometer pro Stunde automatisch deaktiviert, und der Kunde fährt mit dem gewohnten ABC-System. „Mit diesem Arbeitsbereich eignet sich Road Surface Scan eigentlich für alle Länder mit Geschwindigkeitsbeschränkungen. Und bei höherem Tempo auf nicht limitierten Autobahnen wünschen sich ohnehin viele Fahrer noch eine gewisse Rückmeldung von der Straße. Ein Abkoppeln von der Straße wird bei diesen Geschwindigkeiten eher als unangenehm empfunden“, argumentiert Cytrynski.

Weitere Systemeinschränkungen betreffen die Kamera. Prinzipbedingt kann sie die Konturen im Asphalt nicht immer sicher erkennen, etwa bei unzureichend beleuchteter Fahrbahn, bei Regen, Schnee oder Gischt, bei Blendung durch Sonne oder Gegenverkehr, bei wenig reflektierenden Fahrbahnoberflächen oder bei zu geringem Abstand zum Vordermann.

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Erstmals adaptive Dämpfer

Während der MBC-Entwicklung hat Daimler auch die ABC-Fahrwerksregelung erneut aktualisiert. Die jetzt dritte Generation hat erstmals adaptive Dämpfer von ZF. Sie verfügen über ein im Dämpferkolben installiertes Proportional-Magnetventil, das die Dämpfkraft stufenlos verändert und die Radfrequenz – Schwingungen zwischen 10 und 14 Hertz – signifikant reduziert. „Die Technologie ergänzt perfekt den seit 1999 gelieferten Aktuator inklusive Hydraulik-Plunger, mit dem die Federvorspannkraft variabel justiert wird. Diese Komponente des Aktuators fokussiert die Aufbaufrequenzen kleiner fünf Hertz und unterdrückt damit Nick- und Wankbewegungen des Fahrzeugs“, sagt Alexander Groß, Entwicklungsleiter Dämpfungsmodule bei ZF.

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Geringer Energiebedarf

Mit jeder neuen Generation sank zudem der Energiebedarf des Systems. Schon in der zweiten Ausbaustufe wurde eine energiesparende, weil vom Hydraulikkreislauf abkoppelbare, Pumpe integriert. Ist in der aktuellen dritten ABC-Generation der Systemdruck von 200 bar gegeben, wird der Minimaldurchfluss von etwa einem Liter Hydrauliköl pro Sekunde (Maximalleistung zwölf Liter pro Sekunde) nicht mehr gegen den Systemdruck gefördert, sondern nur noch intern auf die Ansaugseite der Pumpe. Das lässt den Beitrag des MBC zum Kraftstoffverbrauch laut Cytrynski inzwischen „auf einen sehr geringen Wert sinken“.

MBC bislang nur in Luxusklasse

Obwohl Daimler zum Marktstart von ABC im Jahr 1999 damit gerechnet hat, dass diese Technik rasch in andere Marktsegmente vordringt, ist sie bisher nur in den Luxusklasse-Modellen S-, CL- und SL-Klasse anzutreffen. Nur dort besteht wohl die Nachfrage nach einem System, das die Nick- und Wankbewegungen im Vergleich zu einer Luftfederung nochmals spürbar verringert und das Auto schwingungstechnisch noch besser von der Straße abkoppelt.

Als eine Zielgruppe für eine maximale Abkoppelung des Fahrzeugs von der Straße mit MBC hat Daimler Chauffeurslimousinen ausgemacht, bei denen im Fond während der Fahrt gearbeitet wird. Hier reizten die Ingenieure im Komfortmodus von MBC die Grenzen des physikalisch Möglichen aus: Sie halbierten die Nickbewegungen der S-Klasse mit MBC verglichen mit einer S-Klasse ohne MBC nochmals. Zum Vergleich: Dieser Sprung entspricht in etwa dem Fahrkomfortunterschied zwischen einer C- und einer konventionellen S-Klasse.

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