Rezension „Automobilentwicklern liegt das Spezifikationenschreiben nicht“

Autor Sven Prawitz

Hans-Leo Ross geht in seinem Buch „Funktionale Sicherheit im Automobil“ auf die neuen Herausforderungen für Software- und Funktionsentwickler ein. Dabei ist es nicht mit der ISO 26262 getan.

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Das Fachbuch „Funktionale Sicherheit im Automobil“ liegt nun in einer zweiten, vollständig überarbeiteten Auflage vor.
Das Fachbuch „Funktionale Sicherheit im Automobil“ liegt nun in einer zweiten, vollständig überarbeiteten Auflage vor.
(Bild: Carl Hanser Verlag)

Mit der Elektrifizierung des Antriebsstrangs steigt der Umfang an Software im Fahrzeug. Neben dem Betriebsmanagement des Antriebs braucht es nun auch eine Steuerung des Thermomanagements. Dazu müssen Lade- und Entladevorgänge der Batteriemodule gesteuert werden. Ungleich anspruchsvoller ist für die Software-Ingenieure das hochautomatisierte Fahren. Tesla macht es seit Jahren vor: Software wird zum Kernelement eines Fahrzeugs und zur Kernkompetenz eines Automobilherstellers.

Um diese beiden Megatrends hat Hans-Leo Ross sein Fachbuch „Funktionale Sicherheit im Automobil“ in der zweiten Auflage erweitert. In dieser bildet die ISO 26262 zwar weiterhin einen festen Bestandteil, an dem sich Ross abarbeitet – schließlich ist die Norm das wichtigste Werkzeug eines Programmierers für eine funktionssichere Software. Die ISO 26262 müsse fest verankert sein im Entwicklungsprozess, sagte eine Führungskraft des Software-Zulieferers Elektrobit während eines Pressegesprächs: Sicherheit lasse sich nicht nachträglich in den Code implementieren.

Ross selbst beziffert seine Berufserfahrung im Bereich der Funktionssicherheit auf 35 Jahre. Eine Zeit lang leitete er die deutsche Arbeitsgruppe zur ISO 26262 im VDA. Zu seinen beruflichen Stationen zählen Continental, Mando und Bosch Engineering. Seit 2019 ist er für die Fahrzeugsicherheit beim Zulieferer Bosch zuständig.

Grundlagen funktionale Sicherheit und System Engineering

Aufgrund der Veränderung der Fahrzeugtechnik geht Ross neben der erwähnten Norm auch auf Standards ein, die bislang kaum eine Rolle in der Automobilindustrie spielten. Zu Beginn seines Buches nennt er alle aus seiner Sicht relevanten Gesetze für Automobilhersteller und deren Zulieferer: Angefangen vom Straßenverkehrsgesetz über EU-Regelungen bis hin zur Produkthaftung.

Das funktionale Sicherheit auch einen wesentlichen Bestandteil für die Investitionssicherheit darstellt, ist derzeit noch wenigen Verantwortlichen in der Automobilbranche bewusst.

In den folgenden Kapiteln führt Ross den Leser in die Grundlagen der Themen „funktionale Sicherheit“ und „System Engineering“ ein. „Das funktionale Sicherheit auch einen wesentlichen Bestandteil für die Investitionssicherheit darstellt, ist derzeit noch wenigen Verantwortlichen in der Automobilbranche bewusst“, schreibt Ross beispielsweise. Luft- und Raumfahrt seien hier ein halbes Jahrhundert voraus.

QM-System als wichtigstes Element

Laut Ross ist die Einhaltung der Sicherheits- und Risikobetrachtung nur durch ein funktionierendes QM-System möglich. Hier bezieht er sich auf den Qualitätsmanagement-Experten Walter Masing. Abgeleitet von dessen Arbeiten auf dem Gebiet des QM gibt Ross Empfehlungen für ein automotive-spezifisches QM-System. Ein Schwerpunkt dabei ist der Sicherheitslebenszyklus eines Automobils, den Ross auf die IEC 61508 (Funktionale Sicherheit sicherheitsbezogener elektrischer/elektronischer/programmierbarer elektronischer Systeme) zurückführt und in der ISO 26262 auf das Automobil angewandt wird.

In seinem Buch vergleicht Ross das automatisierte Fahrzeug immer wieder mit Anwendungen anderer Branchen. Im Maschinenbau gibt es zum Beispiel eine Reihe von Normen (DIN EN 1525, VDI 2510, DIN EN ISO 10218 etc.), die sich mit fahrerlosen Transportern und Robotern beschäftigen. Ross nähert sich so Begriffen wie Zuverlässigkeit und Sicherheit an und schafft einen Transfer auf die Anwendung im Automobil.

Spezifikationen schreiben ist nicht die Stärke eines Automobilentwicklers.

Neue Herausforderung: Spezifikationen schreiben

Später beschäftigt sich Ross mit der System- und Architekturentwicklung und der daraus folgenden Notwendigkeit, Spezifikationen zu schreiben. Hier sieht der Autor eine Schwachstelle in der Branche („Spezifikationen schreiben ist nicht die Stärke eines Automobilentwicklers.“). Ross beschreibt die unterschiedlichen Perspektiven einer Architektur, das Systemengineering zur Entwicklung von Anforderungen und geht speziell auf die Fahrzeugsicherheit ein.

Konferenz zur Fahrzeugsicherheit

Mehr zum Thema Fahrzeugsicherheit gibt es auf der Konferenz „SafetyWeek“. Es gibt dort Vorträge und den persönlichen Austausch mit Experten rund um die Themen passive & aktive Sicherheit, Lichttechnik, Testing und automatisiertes Fahren.
Veranstalter ist Carsh in Kooperation mit »Automobil Industrie«.

zur Veranstaltung

Anschließend geht es im Buch um die Anforderungsentwicklung anhand von Risiko- und Systemanalysen, bevor Ross zur Produktentwicklung übergeht. Hier widmet der Autor unter anderem einige Zeilen dem Thema Betriebssystem im Automobil. Den Abschluss bilden Anwendungsbeispiele für System-Safety-Engineering. Zum einen geht es um Konnektivität (Software OTA, V2X), automatisiertes Fahren nach Level 3 und künstlicher Intelligenz.

Umfangreiche Quellen und Wissenstransfer

Hans-Leo Ross beschreibt nicht nur Normen und Methoden, sondern stellt Bezüge her. So überträgt er – aus seiner Sicht sinnvolle – Erfahrungen aus anderen Bereichen, wie Maschinenbau und Luftfahrt, auf die Automobilindustrie. Dabei nutzt Ross nicht nur seine Berufserfahrung, sondern bezieht gesellschaftliche Diskussionen und vereinzelt auch philosophische Betrachtungen mit ein. Außerdem schließt jedes Kapitel mit einem umfangreichen Literaturverzeichnis. Der Leser erschließt sich somit einen großen Umfang an Quellen.

Das Buch ist im Hanser Verlag erschienen, hat einen Umfang von 479 Seiten und kostet in Deutschland 99,99 Euro (Österreich 102,80 €).

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