Wolfsburg 42 „Es geht nicht darum, das nächste Google oder Facebook für den Verkehr zu schaffen“
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Max Senges leitet die Coding-Schule 42 Wolfsburg. Dort sollen ohne feste Lehrpläne IT-Fachkräfte ausgebildet werden. Im Interview erklärt der Schulleiter, wie es bislang läuft, wie es weitergeht und warum er die Software-Strategien in der Autoindustrie mit Skepsis beobachtet.

Seit Anfang des Jahres können sich Studierende an der „42 Wolfsburg“ Coding-Fähigkeiten aneignen. Die Schule setzt weder auf Professoren, noch auf Lehrpläne. Stattdessen sollen die Studierenden per Peer-Learning vorankommen. Im Interview erklärt Schulleiter Max Senges, wie die Erfahrungen mit dem ersten Jahrgang ausfallen, welche Pläne und Ziele er mit der 42 Wolfsburg verfolgt – und was er von den Software-Strategien der Autobranche hält.
Herr Senges, was bewegt einen dazu, einen Entwickler-Job bei Google aufzugeben, um Schulleiter zu werden?
Max Senges: Die Perspektive, die nächste Generation zu unterstützen, aufgeklärte, nachhaltige Lebenswege zu planen. Das ist sehr reichhaltig und reizvoll. Wir schaffen großartige Möglichkeiten für unsere Studenten. Einerseits vermitteln wir sehr gefragte Fähigkeiten, aber auch ein Mindset, eine „Du kannst es schaffen“-Mentalität. Für mich fühlt es sich wie eine Rückkehr zu meinen Wurzeln an. Ich hatte zu Wissens-Entrepreneurship promoviert und danach zwei Startups im Technik & Bildungsbereich aufgegleist.
Warum haben Sie sich für das „42er-Konzept“ entschieden und nicht etwa für einen Dozenten oder Professoren-Job an einer „normalen“ Uni?
Beide Sachen schließen sich gegenseitig nicht aus. Ich habe auch schon an normalen Unis unterrichtet und publiziere auch gerne. Peer-Learning, also in Lerngruppen voranzukommen, ist in der Software-Entwicklung schon lange etabliert. Sehr angesprochen hat mich an der 42 die Verbindung aus Freiheit und Verantwortung. Das kommt als Paket zusammen. Ganz wichtig ist es aus meiner Sicht, die nächsten Generationen so auszubilden, dass sie ihr eigenes Leben in die Hand nehmen. Sie müssen raus aus dem gefühlten Kontrollverlust. Globalisierung, Digitalisierung, Pandemie – das sind alles Dinge, die auf uns einprasseln und vielen von uns das Gefühl nehmen, unseres eigenes Glückes Schmied zu sein. Zu Unrecht, finde ich. Und das wollen wir bei der 42 vermitteln.
Was macht Sie so sicher, dass Ihre Schüler auf dem Markt ähnliche oder sogar bessere Chancen als Studierende haben, obwohl letztere einen anerkannten Abschluss erwerben und erstere „nur“ eine Urkunde?
Unsere Absolventen sind kompetent. Sie sind wirklich gute Programmierer. Und das nicht in einem Kontext, der ihnen vorgeschrieben wurde. Sie haben ihre Projekte selbst erfasst und eigenverantwortlich umgesetzt. Das will jeder Chef da draußen. Deshalb kommen unsere Coder in der Wirtschaft sehr gut an. „Klassische“ Studenten brauchen wegen ihrer oft sehr akademischen Ausbildung nach dem Abschluss häufig noch viele Monate, bevor sie selbst loslaufen können. Das gibt es bei uns durch den Peer-Ansatz nicht. In der Software-Entwicklung ist das der native Modus Operandi, unsere Praktiken sind unter IT-Forschern und Hackern lange etabliert. Wenn man an der Grenze des technologisch Möglichen arbeitet, gibt es keine Lehrbücher. Es gibt übrigens auch schon viele tausende Absolventen von anderen 42-Schulen, die in der Wirtschaft sehr erfolgreich sind. Über 90 Prozent finden einen attraktiven Job, machen sich selbstständig oder gründen ein Start-up. 42 ist eine europäische Erfolgsgeschichte.
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Anfang des Jahres sind Sie in Wolfsburg gestartet. Wie viele Studierende zählt die 42 Wolfsburg aktuell?
Im Moment 150. Unsere Kapazität liegt bei 600. Im November kommen die nächsten 150.
Wie viele Bewerbungen auf die Plätze gehen bei Ihnen ein?
In der ersten Runde hatten wir rund 6.000 Registrierungen von Interessenten. Dann folgt ein zweistündiger Online-Test. Dafür braucht es keine Vorkenntnisse. Aber man muss die eigene Motivation unter Beweis stellen und sollte algorithmisch denken können. Die erfolgreichsten 450 Kandidaten laden wir dann zum vierwöchigen Bootcamp ein, das wir „Piscine“ nennen. Ein Drittel sagt dann dabei, Coding oder Peer-Learning ist nichts für mich. Und vom Rest erhält dann etwa die Hälfte einen Platz bei uns.
Sie betonen, beim Auswahlprozess auf eine hohe Diversität unter den Studierenden achten zu wollen. Wie gut ist Ihnen das bisher gelungen?
Radikale Inklusion ist einer unserer Grundwerte. Ich glaube, dass Teamfähigkeit in diverser Zusammensetzung ein essenzieller Soft Skill ist, der in der Wirtschaft gut ankommt. Wir haben 30 Nationen unter unseren Studierenden, etwa die Hälfte ist aus Deutschland. Im Moment haben wir immerhin 25 Prozent Frauen. Für die Informatik ist das zwar schon eine gute Zahl, aber wir wollen schnell auf 35 Prozent kommen. Übrigens studieren bei uns auch verhältnismäßig viele Menschen aus der LGBTQ-Community. Das finde ich sehr schön.
Wie alt sind Ihre Studenten im Schnitt?
Die 42 ist für viele die zweite Chance. Das Durchschnittsalter liegt bei 28 Jahren, ist also verhältnismäßig hoch. Aber die Spannweite ist sehr groß. Wir bewegen uns da zwischen 18 und 58 Jahren. Das finden wir auch sehr cool. Denn das gehört ja auch zur Diversität. Da wird auch mal der 58-Jährige von der 18-Jährigen evaluiert. Das sind spannende Erfahrungen. Ebenfalls interessant: Jeder Vierte kommt aus der Arbeitslosigkeit. Bei uns hat jeder eine Chance. Besonders freue ich mich darüber, dass wir mit unserem Partner Redi School auch Geflüchtete für uns gewinnen wollen und können. Wir haben bereits einen Studenten aus Afghanistan.
Wir setzen beispielsweise auf Portfolios, die ganz klar die individuellen Fähigkeiten unserer Studierenden wiedergeben. Das halte ich für sehr viel aussagekräftiger als viele Lebensläufe, in denen Schulnoten stehen.
Wenn man „42 wolfsburg erfahrungen“ googelt, kommt als erster Treffer ein Beitrag mit dem Titel: „Genau so was braucht man … nicht!“ Darunter üben User beispielsweise Kritik, dass von Studierenden 14 bis 16-Stunden-Tage erwartet würden – ohne Bezahlung. Was sagen Sie dazu?
Tja, Internetforen. Wir sehen das sportlich. Wir haben 24 Stunden am Tag offen. Wer etwas lernen will, muss sich dafür auch die Zeit nehmen. Der Unterschied zu Unis liegt darin, dass jeder selbst entscheiden kann, wann man etwas lernen will. Ich bin überzeugt: Man kann eigentlich nichts lehren. Wir schaffen einen Lernraum, in dem sich die Studierenden selbst bewegen. Wer sehr smart ist, muss sich nicht lange mit den Themen beschäftigen. Jeder kann seine Geschwindigkeit und Intensität wählen. Wir halten nichts davon, strikt an Zertifikaten festzuhalten. Stattdessen setzen wir etwa auf Portfolios, die ganz klar die individuellen Fähigkeiten unserer Studierenden wiedergeben. Das halte ich für sehr viel aussagekräftiger als viele Lebensläufe, in denen Schulnoten stehen.
Das 42er-Prinzip verzichtet auf Professoren, Vorlesungen und Co. Wie genau werden Studierende bei Ihnen bewertet?
Unser Ziel ist es, dass unsere Studenten in einen Lern-Flow kommen. Dann erzielen sie die besten Ergebnisse. Dafür braucht es kontinuierlich schwierige, aber machbare Aufgaben. Wer eine Aufgabe gelöst hat, reicht das Ergebnis ein. Dann bekommt man per Zufallsprinzip einen Kommilitonen oder Kommilitonin zugelost und erklärt dieser Person die eigenen Ergebnisse. Darauf folgt eine computerbasierte Überprüfung, die sehr penibel ist. Das trimmt auf Genauigkeit, was beim Coden fundamental ist. Mit jedem Mal werden die Aufgaben dann etwas schwieriger. Man steigt in Level auf. Und in regelmäßigen Abständen wird überprüft, ob man das auch ohne Google und Kommilitonen hinbekommt. Wir haben am Ende von Leveln schon auch „Endmonster“, also Examen, in denen die Studenten sehen, ob sie ein Thema wirklich kompetent und eigenständig beherrschen.
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