Gastbeitrag „Technische Simulation muss wesentliches Werkzeug werden“

Von Prof. Burkhard Göschel

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Die Transformation der Automobilindustrie zu mehr Umweltschutz, Autonomie und Elektrifizierung ist hoch komplex. Nur durch den Einsatz von Simulation wird dieser Prozess handhabbar, erklärt Prof. Burkhard Göschel, Ex-BMW-Entwicklungsvorstand, in seinem Gastbeitrag.

Prof. Burkhard Göschel.
Prof. Burkhard Göschel.
(Bild: privat)

Der Automobilindustrie steht eine Herkulesaufgabe bevor. Dabei ist eine der größten Herausforderungen, den Spagat zwischen gesetzlichen Vorgaben und den Anforderungen der Konsumenten zu meistern. Die Branche muss proaktiv werden und Beispiele für sinnvolle gesetzgeberische Regelungen liefern. Sie muss den Gestaltungshorizont eröffnen, der die Kundenakzeptanz beinhaltet.

Nachhaltigkeit ist dabei aber nur ein Aspekt des umfassenden technologischen Wandels, der die Elektrifizierung sowie das autonome Fahren, neue Nutzungsmodelle, die Konnektivität, die Sicherheit und auch den Komfort der einzelnen Fahrzeuge umfasst. All diese Faktoren erhöhen die Komplexität des Systems Automobil. Doch um dieser Komplexität Herr zu werden, braucht es ein komplettes Umdenken bei Entwicklung und Systemarchitektur in der gesamten Branche. Und es braucht Werkzeuge, die in der Lage sind, diese Komplexität begreif- und beherrschbar zu machen.

Mithilfe von schon in der frühen Entwicklungsphase eingesetzter physikbasierter Simulation und Model-Based-Systems-Engineering (MBSE), lässt sich dieser neue Entwicklungsprozess zeit- und ressourcensparend gestalten. Ohne diese Werkzeuge ist der Weg zu mehr Nachhaltigkeit, Sicherheit, Komfort und Konnektivität nicht zu bewältigen und die wachsende Komplexität nicht handhabbar.

Aus meiner Sicht gibt es drei Gründe, warum sich technische Simulation und MBSE noch nicht als wesentliche Werkzeuge durchgesetzt haben. An diesen muss die Automobilindustrie dringend arbeiten.

1. Dem technologischen Wandel muss ein mentaler Wandel vorangehen

Der Einsatz von digitalen Werkzeugen und technischer Simulation ist nichts Neues für die Automobilindustrie. Allein der Markt für Simulationsanwendungen in der Automobilindustrie wird auf knapp vier Milliarden US-Dollar bis zum Jahr 2026 geschätzt. Durch sie können Prototypen, Baugruppen oder komplette Karosserien digital erstellt und physikalisch korrekt getestet werden. Das spart Zeit und senkt Kosten, da auf ressourcenintensive Prototypen immer häufiger verzichtet werden kann und Entwicklungszyklen wesentlich verkürzt werden.

Trotz dieser Vorteile herrscht weiterhin vielfach Skepsis und Misstrauen gegenüber dieser Technik. Dabei wird ihr Einsatz aufgrund der steigenden Komplexität der Systeme immer wichtiger. De facto sind Automobile schon heute fahrende Smartphones, bei denen die Softwarearchitektur und -steuerung mindestens genauso wichtig ist, wie die mechanischen und elektronischen Komponenten. Um der Komplexität also angemessen zu begegnen, muss die Skepsis abgebaut werden. Das ist eine Führungsaufgabe. Abteilungsleiter, das Management und die Geschäftsführung müssen Simulation als Standardwerkzeug mit einer klaren Zielsetzung schon in der frühen Entwicklungsphase im Unternehmen etablieren und so die Ingenieurteams durch positive Erfahrungen an die Technik heranführen.

2. Die Lebenszyklusbetrachtung zum Standard machen

Laut BMW-Chef Oliver Zipse stellt Nachhaltigkeit eine Überlebensfrage der Industrie dar. Damit geht er weiter als viele seiner Kollegen. Und er hat recht. Der Fokus bei der Gesetzgebung, aber auch bei vielen Autobauern, lag in den vergangenen Jahrzehnten meist auf der Optimierung der Nutzungsphase. Dabei geriet eine Vielzahl umweltschädlicher Prozesse, wie die Rohstoffgewinnung, die Logistik und die Produktion, in den Hintergrund. Auch Wiederverwendungs- oder Recyclingszenarien wurden vernachlässigt. Gerade im Zusammenhang mit der Elektrifizierung und der kritischen Auseinandersetzung mit der Batterie als nachhaltigem Leistungsträger, erhalten diese Bereiche wieder mehr Aufmerksamkeit.

Hinzu kommt das Lieferkettengesetz, das Unternehmen in Deutschland dazu verpflichten wird, auf die Einhaltung von Menschenrechten und Umweltvorgaben bei ihren Vertragspartnern im Ausland zu achten. Die Branche kommt deshalb um eine Lebenszyklusbetrachtung ihre Automobile nicht herum. Simulationswerkzeuge können hier weitreichend helfen. Vor allem, wenn ein digitaler Zwilling als Führungsgröße genutzt wird.

Mit dieser vernetzten, virtuellen Nachbildung eines in Betrieb befindlichen Systems, lassen sich die Nutzung der Fahrzeuge optimieren (Energie- und Wärmeverlust, Software-Steuerung), Verschleiß vorhersagen und damit Wartungen besser planen sowie die Langlebigkeit erhöhen. Aber auch in der Frühphasenentwicklung können Materialdatenbanken (etwa Ansys Granta) dabei unterstützen, den Materialeinsatz zu minimieren, die Recyclingquote zu erhöhen und gezielt nicht-toxische Materialien auszuwählen. Auch Produktionsprozesse können simuliert werden und sicherstellen, dass die benötigte Prozessenergie in der Fertigung minimiert wird.

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3. Mehr Fokus auf die Gesamtsystembetrachtung

Neue Anforderungen an Energieeffizienz und alternative Antriebe sowie die dynamische Entwicklung neuer Assistenzsysteme bis hin zum autonomen Betrieb erfordern auch neue Simulationsmethoden zur virtuellen Absicherung. Heute schon stellt Simulation vielfach sicher, dass alle Komponenten im System erwartungsgemäß funktionieren. Doch es fehlt bei vielen Unternehmen noch der holistische Blick auf das Gesamtsystem. Dieser gelingt mit Multiphysiksimulation und MBSE.

Die besten Beispiele für eine Gesamtsystembetrachtung mithilfe von technischer Simulation sind aktuell im Rennsport zu finden: etwa die Weltrekordfahrten des VW ID R beim Pikes Peak International Hill Climb und auf der Nürburgring Nordschleife. Für Pikes Peak wurde in nur wenigen Monaten mit Multiphysik-Simulationssoftware von Ansys ein vollelektrischer Rennwagen fertiggestellt.

Ein weiteres Beispiel ist das Formel-E-Team von Porsche. Hier sind die von der Formel E vorgegebene Batteriekapazität und Leistungsabgabe begrenzende Faktoren. Über Sieg oder Niederlage entscheidet deshalb die Effizienzoptimierung auf Basis von Komponenten- und Systembetrachtung. Dabei verdeutlicht Multiphysiksimulation die physikalischen Problemstellungen (Wärme, Flüssigkeiten, Mechanik, Elektrik) und Wechselwirkungen der Komponenten im System untereinander.

Der bevorstehende nächste Schritt ist das Model-Based-Systems-Engineering. MBSE wird es Ingenieurteams ermöglichen, die komplexen Softwarearchitekturanforderungen des gesamten Systems nachzuvollziehen. Da die elektronische Architektur schon heute immer mehr auf Software beruht, muss MBSE künftig die Multiphysiksimulation bei einer Gesamtsystembetrachtung ergänzen.

Simulation fördert Innovationen

Elektrifizierung, Autonomie, Konnektivität, Sicherheit, neue Nutzungsmodelle und Nachhaltigkeit: Die Automobilindustrie ist inmitten einer marktwirtschaftlich, gesellschaftlich und legislativ getriebenen ganzheitlichen, technologischen Transformation.

Simulation sorgt dafür, dass die Branche Innovationen schneller entwickelt, Entwicklungszyklen deutlich verkürzt werden und sie Kosten senkt durch höhere Qualität, mehr Forschungs- und Entwicklungseffizienz sowie weniger physische Prototypen. Doch Misstrauen der Technik gegenüber und Zurückhaltung bei Investitionen, lassen den notwendigen Wandel in den Ingenieurteams stocken. Ohne ganzheitlich eingesetzte Simulation und MBSE schon in der Frühphase der Entwicklung, ist die wachsende Komplexität des Gesamtsystems Automobil nicht beherrschbar.

Nur mit Simulation als wesentliches Werkzeug in der Entwicklung wird es der Automobilindustrie gelingen, ihren Gestaltungsspielraum im politischen und gesellschaftlichen Diskurs zurückzugewinnen und sinnvolle Lösungen für eine künftige kunden- und umweltorientierte Gesetzgebung zu liefern.

Zur Person

Burkhard Göschel war nach Führungspositionen im Management von 2000 bis 2006 Entwicklungsvorstand bei BMW. Der promovierte Ingenieur ist ausgewiesener Experte für Verbrennungsmotoren und Fahrzeugtechnik. Als Honorarprofessor der Universität Graz, Ehrendoktor und Senator der Technischen Universität München berät Göschel heute weltweit Firmen zur Zukunft von Antriebstechnologien, die er langfristig im Elektroantrieb mit Batterie oder Brennstoffzelle sieht.

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