Entwicklungsdienstleister Noise Vibration Harshness: Prüfstände und Entwicklungsmethoden

Autor / Redakteur: Richard Backhaus / Thomas Günnel

Die NVH (Noise Vibration Harshness)-Anforderungen an das Gesamtfahrzeug und die Einzelkomponenten steigen – die Zeit für die Fahrzeugentwicklung sinkt. Entwicklungsdienstleister reagieren darauf: mit neuen Prüfständen und optimierten Entwicklungsmethoden.

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Die NVH (Noise Vibration Harshness)-Anforderungen an das Gesamtfahrzeug und die Einzelkomponenten steigen. Entwicklungsdienstleister reagieren darauf unter anderem mit neuen Prüfständen.
Die NVH (Noise Vibration Harshness)-Anforderungen an das Gesamtfahrzeug und die Einzelkomponenten steigen. Entwicklungsdienstleister reagieren darauf unter anderem mit neuen Prüfständen.
(Bild: Bosch Engineering)

Sicherlich erinnert sich der eine oder andere an eine Fernsehwerbung anno 1990: Ein Paar fährt in einem Kleinwagen eine holprige Straße entlang. Sie schläft auf dem Beifahrersitz, er sitzt hinter dem Lenkrad. Während der Fahrt wird er von einem ständigen Quietschen genervt, das irgendwoher aus dem Fahrzeug zu kommen scheint. An einer Tankstelle sucht der Fahrer Hilfe beim Tankwart, der die Ursache schnell gefunden hat – ein kleiner Tropfen Öl auf das Scharnier am Ohrring der Dame, und der glücklichen, geräuschlosen Weiterfahrt steht nichts im Wege.

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Schon damals war ein geringes NVH-Niveau (Noise, Vibration, Harshness: Geräusch, Vibration, Rauigkeit) ein Prädikat für Produkte mit Premiumanspruch, auch im Kleinwagensegment. Und in den vergangenen Jahrzehnten haben sich die NVH-Anforderungen der Kunden noch weiter verschärft. Mithilfe immer weiterführender Dämmungs- beziehungsweise Dämpfungsmaßnahmen konnte der Lärmpegel im Fahrzeuginnenraum kontinuierlich reduziert werden, parallel wurden die einzelnen Bauteile des Fahrzeugs geräuschoptimiert.

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In der Umsetzung nimmt die NVH-Optimierung im Vergleich zu früher dabei immer mehr Raum im Fahrzeugentwicklungsprozess ein. „Die Akustik ist inzwischen eine ganz wichtige Schnittstelle in der gesamtheitlichen Entwicklung, die zielorientierteres und effizienteres Zusammenarbeiten ermöglicht: wie in der Karosserieentwicklung über die Ermittlung dynamischer Karosseriesteifigkeiten oder bei Eigenschwingformanalysen zur Entdröhnung von Bauteilen“, erklärt Mathias Fritzsche, Abteilungsleiter Akustik und Versuch Exterieur bei der Bertrandt Technologie GmbH in Tappenbeck.

Widersprüchliche Entwicklungsziele

Allerdings stehen Entwicklungsvorgaben nach geringen NVH-Werten oftmals im Widerspruch zu den übergeordneten Zielen, Gesamtfahrzeugeffizienz, CO2-Ausstoß und Schadstoffemissionen weiter zu reduzieren. So stellen bei konventionellen Verbrennungsmotoren beispielsweise Downsizing und Reibungsoptimierung große Herausforderungen dar, wenn es darum geht, Turboladergeräusche und Drehungleichförmigkeiten wieder auf ein akzeptables Niveau zu bringen. Bei Elektrofahrzeugen wiederum fehlt die Maskierung der Fahrzeuggeräusche durch den Verbrennungsmotor, sodass die Akustik der Nebenaggregate viel stärker wahrgenommen wird.

Ein anderes Thema sind die Betriebsmodi bei Hybridfahrzeugen, etwa wenn der Antrieb zwischen dem Elektro- und dem Verbrennungsmotor geschaltet wird. Ganz unabhängig vom Antriebskonzept steigt der Stellenwert der Systementwicklung und der Vernetzung bei der heutigen Fahrzeugentwicklung kontinuierlich. Auch hier treten mitunter NVH-seitige Wechselwirkungen auf, die erst während der Funktionstests im Gesamtfahrzeug analysiert und abgestellt werden können. „Die zunehmende Verkürzung der Entwicklungszyklen erfordert eine ideale Integration der Akustikoptimierung in die bestehenden Entwicklungsprozesse“, so Jörg Vetter, Senior Manager, New Calibration Services & Products bei Bosch Engineering, der auf Entwicklungsdienstleistungen spezialisierten Tochtergesellschaft der Robert Bosch GmbH.

Grenzen traditioneller Entwicklungsmethoden

Traditionelle NVH-Entwicklungsmethoden stoßen vor dem Hintergrund der neuen Aufgabenfelder immer mehr an ihre Grenzen. Untersuchungen des akustischen Verhaltens während der Fahrt wurden bis vor Kurzem zumeist bei Testfahrten auf der Straße oder abgesperrten Prüfstrecken durchgeführt.

Das Problem dabei: Die Messergebnisse werden stark von äußeren Einflüssen wie Umgebungsgeräuschen, der Wettersituation oder dem Fahrerprofil beeinflusst, sodass die Testreihen langwierig waren, kaum zu reproduzierbaren Ergebnissen führten und die zielgerichtete Optimierungsarbeit erschwerten. Im Gegensatz dazu liefern Prüfstandstests schnell ein umfassendes Gesamtbild der NVH-Situation. Neue oder geänderte Bauteile lassen sich effizient unter vergleichbaren Randbedingungen testen und miteinander vergleichen. Das reduziert den Kosten- und Zeitaufwand bei der Akustikentwicklung neuer oder der -verbesserung aktueller Fahrzeuge erheblich.

Viele Entwicklungsdienstleister haben daher ihre Akustikentwicklungskapazitäten ausgebaut und um moderne Prüfstände erweitert. Eines der jüngsten Beispiele ist das Akustikprüfzentrum von Bosch Engineering in Abstatt bei Heilbronn. Kern der Anlage bildet ein speziell ausgerüsteter Fahrzeugrollenprüfstand, in den das Unternehmen in den vergangenen zwei Jahre mehr als sechs Millionen Euro investiert hat. Er eignet sich für konventionell angetriebene Fahrzeuge mit Verbrennungsmotor genauso wie für alternative Fahrzeugkonzepte mit Hybrid- oder reinem Elektroantrieb. Auch können alle Antriebskonfigurationen getestet werden, ob mit Allrad-, Front- oder Heckantrieb.

Funktionsvielfalt am Prüfstand

Die vier Rollen des Prüfstands sind unabhängig voneinander steuerbar, somit lassen sich verschiedene Radmomente simulieren, beispielsweise um Kurvenfahrten und unterschiedliche Radbelastungen nachzubilden. Ähnliche Möglichkeiten bieten unter anderem Bertrandt und AVL.

Der Entwicklungsdienstleister Bertrandt betreibt beispielsweise in Gaimersheim nahe Ingolstadt ein modernes Fahrzeugakustikzentrum inklusive Allrad-Akustik-Rollenprüfstand mit einem aero-akustischen Blaskanal zur Fahrtwindkühlung. Zudem ist die Anlage mit einem Mehrkanal-Schwingungsmessgerät ausgestattet. Für die AVL List GmbH erklärt Bernhard Graf, Skill-Teamleader NVH: „Im AVL-Verbund gibt es Akustikprüfeinrichtungen im Headquarter Graz, im Tech Center Stuttgart in Bietigheim-Bissingen und im Tech Center Ingolstadt.“

Die derzeit modernsten Akustikprüfstände, ein Motorakustikprüfstand und ein Allrad-Akustik-Rollenprüfstand, sind im Januar 2016 in Bietigheim-Bissingen in Betrieb gegangen. Um die Potenziale der Akustik-Rollenprüfstände optimal ausnutzen zu können, muss das Zusammenwirken von Straßentests, Prüfstandsuntersuchungen und Simulationen im Entwicklungsprozess optimal auf die aktuelle Aufgabenstellung angepasst werden. „Simulation und Versuch sind dabei sehr eng miteinander verzahnt. Dies ist schon aufgrund der kurzen Entwicklungszeiten und der reduzierten Anzahl von Prototypen notwendig.

Ein anderer Aspekt ist, dass schon in einem sehr frühen Stadium in der Produktentwicklung belastbare Aussagen über das akustische Verhalten des Antriebsstrangs im Gesamtkontext Fahrzeug getroffen werden müssen. Bereits zu Beginn der Entwicklung führen wir umfangreiche Simulationen zur Auslegung und zur Definition der besten Konfiguration durch. Damit begleitet die Simulation den gesamten Produktentwicklungsprozess maßgeblich“, meint Bernhard Graf.

Das Gesamtsystem entwickeln

Für Bosch verweist Jörg Vetter auf einen weiteren Aspekt, der die Effizienz des Entwicklungsprozesses steigert: „Unsere Stärke ist ein ausgeprägter Systems-Engineering-Ansatz, bei dem die NVH-Entwicklung künftig ein wichtiger Baustein sein wird. Daraus ergeben sich Synergien zwischen den einzelnen Entwicklungsaufgaben, die zu Zeit- und Kosteneinsparungen führen, beispielsweise wenn wir schon bei der Motorapplikation von Verbrennung und Abgasnachbehandlung den NVH-Aspekt mit berücksichtigen.“

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